Vernunft in der Medizin – Am Beispiel des künstlichen Kniegelenks 4

Vernunft und Gefühl versus Sachverstand
Viele Dinge in der Medizin sind auch ganz ohne medizinischen Sachverstand beurteilbar. Im Gegenteil, manchmal stört der Sachverstand sogar.
Stellen Sie sich mal einen aufgemotzten Riesen-Jeep vor, von der Art, wie sie heutzutage immer häufiger durch die Straßen fahren, damit sie im Gelände nicht schmutzig werden. Sie sagen, Sie sind kein Auto-Spezialist? Spielt keine Rolle. Bin ich auch nicht. Laienverstand ist gefragt.
Ein artfremdes Beispiel
Der Jeep, den Sie sich vorstellen sollen, ist nicht mehr der Neueste. Er ist prima durch die neunziger Jahre gekommen und braucht neue Stoßdämpfer. Der Kunde geht zu einem Autoteile-Verkäufer und landet, ohne es zu wissen, bei jemandem, der nur Sportwagen-Teile verkauft.
Der Händler, zuletzt nicht mehr richtig in der Gewinnzone, fragt nach dem Wunsch. Hört sich die Probleme des Jeepfahrers an und antwortet, da hätte er etwas Tolles, sportlich, absolut modern, vergleichsweise preiswert und nahezu mit allen Fahrzeugtypen kompatibel.
Die neuen Stoßdämpfer sehen super aus, der Preis ist tatsächlich annehmbar, allerdings fragt sich der Kunde, ob die wirklich in seinen alten Riesen-Jeep passen. Jawoll, sagt der Porscheteile-Händler und will sie auch gleich einbauen. Hände werden geschüttelt und die Sache läuft.
Was passiert, ist vorhersehbar. Der Jeep liegt irgendwie nicht vernünftig auf der Straße und nach kurzer Zeit sind die Stoßdämpfer hin.
Das Fazit: Das hätte man wissen können.
Zurück zum realen Knie-Patienten: Der hat seit Jahren Schmerzen im Knie und geht zum Orthopäden. Der Orthopäde ist Kniespezialist und wie es der Zufall will, er operiert auch selbst. Er röntgt, schickt in die Röhre und untersucht vielleicht sogar mit Hand und Auge. Er kommt zu dem Schluss: Der Patient braucht ein neues Kniegelenk. So eine große Sache ist das nun heutzutage auch nicht mehr. Stimmt. Eine große Sache ist das nicht mehr, aber immerhin noch eine Sache.
Der Patient geht zum Hausarzt, weil er auf OP-Fähigkeit untersucht werden muss. Der Hausarzt fragt (wenn er gut ist), warum. Der Patient erzählt ihm die Geschichte. Der Hausarzt hakt ein (wenn er gut ist), haben Sie sich das auch gut überlegt.
Antwort: „Ja. Die Sache ist in trockenen Tüchern. In drei Wochen geht‘s los. Der Orthopäde hat gesagt, es geht nicht anders.“
Bislang ging es anders, wenn auch mit Schmerzmitteln, Einreibungen, Wärme- oder Kältebehandlungen. Aber der Patient ist diese Dinge leid, er will nicht mehr soviel schlucken.
Zurück zum Vergleich mit dem Auto
Zugegeben der Orthopäde ist kein Autoteileverkäufer, aber er ist auch kein Diabetologe, kein Pulmologe, kein Neurologe und kein Hausarzt. Will heißen, ein Orthopäde guckt zunächst einmal geradeaus auf seine Möglichkeiten und, so ist es nunmal heutzutage, mit einem Seitenblick auch auf sein Auskommen. Ob er noch rechts zur Zuckerkrankheit und links zur chronischen Bronchitis oder ganz rechts zum chronischen Schmerzsyndrom und ganz links zur Bequemlichkeit, zum Alter, zum Gewicht des Patienten blickt, ist mehr als fraglich.
Sei‘s drum, die Entscheidung ist gefallen. Der Hausarzt hat an dieser Stelle kaum noch eine Chance. Manchmal nutze ich meine geringen Möglichkeiten und ganz selten stimme ich auch mal einen Patienten um, wenn ich einen operativen Eingriff für groben Unfug halte, wie in dem vorliegenden Fall:
Der Patient, 82 Jahre alt, Diabetiker mit allen Problemen, dazu COPD-Kranker (chronische Bronchitis) mit chronischem Rückenschmerz und starkem Übergewicht (mindestens 20kg) wird operiert. Übrigens hat er schon ein künstliches Hüftgelenk, mit dem er überhaupt nicht klar kommt.
Die abschließende Frage, ganz ohne medizinischen Sachverstand:
Klingt dieser Fall vernünftig?
Lesen Sie weiter im nächsten Artikel dieser Reihe

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