Der Steinzeitmensch legte am Tag durchschnittlich 20 km zurück – nicht auf dem Laufband, sondern draußen und ohne Sonnenschutzcreme. Weil die Haut mit Hilfe von UV-Licht Vitamin D herstellen kann, hatte er keinen Vitamin-D-Mangel. Der moderne Mensch verbringt dagegen viel Zeit in geschlossenen Räumen. An den geringeren Lichteinfluss dort hat sich sein Körper in der kurzen Spanne zwischen Steinzeit und Moderne aber nicht anpassen können. Häufige Folge ist ein Mangel an Vitamin D. Das ist eigentlich gar kein Vitamin, das der Körper für Stoffwechselvorgänge aufnehmen muss, sondern ein Hormon, das er aus einem Cholesterin-Abbauprodukt selbst produziert. Über die Nahrung können wir uns meist nicht genügend Vitamin D zuführen – es sei denn, wir ernähren uns tagtäglich von fettem Fisch und Lebertran.
Lichtkur auf dem Zauberberg
Lange Zeit glaubte man, Vitamin D sei nur für das Knochenwachstum wichtig. In den letzten Jahren hat man aber verstärkt seine Wirkung auf andere Organsysteme erforscht, besonders auf das Immunsystem. So hat man herausgefunden, dass Vitamin D zur Reifung der T-Lymphozyten beiträgt. Außerdem regt es Immunzellen dazu an, vermehrt Abwehrstoffe gegen Bakterien und Viren zu bilden. Am besten belegt ist das bei der Tuberkulose: Schon im vorletzten Jahrhundert wusste man, dass hier eine „Lichtkur“ gut ist, weshalb Tb-Kranke in Höhenkurorte geschickt wurden – wie in Thomas Manns „Zauberberg“. Warum sich Licht günstig auswirkt, war damals aber noch nicht bekannt.
Vitamin-D-Mangel vermindert nicht nur die Abwehr: Auch bestimmte Krebs-Erkrankungen werden damit in Verbindung gebracht, ebenso Bluthochdruck, Diabetes mellitus, Übergewicht und Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Soll man also die ganze Bevölkerung mit Vitamin D versorgen? So weit geht die Forschung noch nicht. Vor allem, weil noch nicht klar ist, ob der Vitaminmangel die Krankheit verursacht oder die Krankheit den Vitaminmangel. Und man weiß auch noch nicht, ob eine Zufuhr von Vitamin D hilft.
Leitlinien zur HIV-Therapie: Vitamin-D-Mangel vorbeugen
Anders ist das bei der HIV-Infektion. So empfehlen die europäischen Leitlinien zur HIV-Therapie, den Vitamin-D-Spiegel im Blut zu kontrollieren. Tatsächlich misst man bei ca. 85 % aller HIV-Positiven niedrige bis sehr niedrige Werte. Die HIV-Infektion scheint also einen Vitamin-D-Mangel zu begünstigen. Hinzu kommt, dass das häufig eingesetzte HIV-Medikament Efavirenz den Vitamin-D-Spiegel weiter absenkt. Weil die HIV-Infektion und anscheinend auch einige HIV-Medikamente (z. B. Tenofovir) eine Osteoporose begünstigen, sollte Vitamin D jedoch ausreichend vorhanden sein, um diesem Vorgang entgegenzuwirken.
Liegt der Vitamin-D-Wert unter 30 Nanogramm pro Milliliter Blut (ng/ml), besteht ein Mangel, unter 20 ng/ml ein schwerer Mangel. Der „angestrebte Bereich“ liegt bei 30–60 ng/ml, erst ab 150 ng/ml kann es zu Vergiftungssymptomen kommen. Die Blutspiegel können allerdings stark schwanken. Wenn nach einem hellen Sommer die Vitamin-D-Speicher voll sind, werden eher normal hohe Werte gemessen. Im nächsten Frühjahr kann man dann bei denselben Personen unter Umständen einen schweren Mangel feststellen.
Die beste Medizin: Sonnenlicht
Bei einem nachgewiesenem Mangel bezahlen die Krankenkassen die Vitamin-D-Substitution. Einige Ärzte substituieren HIV-Patienten aber auch, ohne vorher den Blutwert zu messen. Eine Messung im Herbst sage nichts über die Situation im Winter aus, und eine Messung koste genauso viel wie zwei Jahre Vitamin-D-Substitution, wird argumentiert.
Bei einer sachgerechten Substitution ist eine Überdosierung nicht möglich. Die Empfehlung auf der 10. Internationalen Konferenz zur HIV-Therapie in Glasgow: entweder täglich 2.000 Internationale Einheiten (IE) Vitamin D in Form einer leicht auflösbaren Tablette oder einmal wöchentlich 20.000 IE als Kapsel.
Die beste Medizin ist aber immer noch das Sonnenlicht. Wer sich an der frischen Luft bewegt, tut seinem Körper und seinen Knochen gleich zweimal Gutes: Mehr Vitamin D bildet sich, und die Knochen werden aufgebaut. Denn was der Körper nicht dauernd braucht, baut er ab. Daher hat dünne Knochen, wer das Sofa hütet, und starke, wer sich ausreichend bewegt. Es müssen ja nicht gleich die täglichen 20 km des Steinzeitmenschen sein …