Vernunft in der Medizin – am Beispiel der Unterzuckerung II

Der konkrete Krankheitsfall:
Ein Patient, männlich, 82 Jahre alt, seit Jahren Diabetiker vom Typ II („Alterszucker“), übergewichtig, leichter Bluthochdruck, besucht bei subjektivem Wohlbefinden seine Verwandtschaft im dreihundert Kilometer entfernten Ruhrgebiet. Ein runder Geburtstag wird dort gefeiert. Im Zuge der Feierlichkeiten mit reichlich Buffets, dazu fremder Umgebung, veränderten Tagesabläufen und somit veränderten Zeiten von Medikamenteneinnahmen, gerät der Blutzuckerspiegel meines Patienten durcheinander, ohne dass er es merkt.
Veränderter Tagesablauf – anderer Stoffwechsel
Zwei Tage nach der Feier sitzt man gemeinsam am Frühstückstisch und noch bevor mit dem Essen begonnen werden kann, sackt mein Patient zusammen und fällt vom Stuhl.
Natürlich ist alles erschrocken, es sieht aus, als ob der liebe Verwandte aus dem Norden stirbt. Aber bevor jemand etwas tun kann, öffnet mein Patient die Augen, will sich aufrichten und flüstert geschwächt:
„Ich brauche…“
Die Ohnmacht kehrt zurück. Was braucht ein Zuckerpatient in diesem Fall?
Seine Zuckermedikamente?
Nein!
Die einzig richtige Antwort lautet:
Zucker!
Stoffwechselentgleisungen und damit zusammenhängende Ohnmachten haben bei Zuckerkranken in der Regel zwei Ursachen:
1. Unterzuckerung (Hypoglykämie) oder
2. Überzuckerung (Hyperglykämie).
Mit dem Verabreichen von Zucker kann man nicht viel falsch machen. Wäre der Blutzuckergehalt des Patienten in einer Notfallsituation, wie der geschilderten zu hoch, verschlechtert ein Stückchen Traubenzucker oder etwas Zuckerwasser die Lage kaum. Steckt der Kollabierende in einer Unterzuckerung, und es würde gelingen, ihm zuckersenkende Medikamente einzuflößen, würde man die Hypoglykämie noch vertiefen. Ein gefährlicher Zustand. Im Falle meines Patienten auf Verwandtschaftsbesuch sollte also möglichst schnell eine Zuckerlösung vorsichtig in den Mund geträufelt werden.
Ruhe bewahren
Die Angehörigen meines Patienten sind so verdattert, dass sie nicht darauf kommen. Die einen glauben, die Vollendung des Satzes Ich brauche… sollte lauten …meine Medikamente, die anderen …einen Arzt. Keiner kommt auf …Zucker.
Der Notarzt wird gerufen. Als er die Küche betritt, kommt der Bewusstlose gerade wieder zu sich und will etwas essen. Er kennt die Situation. Zwar hat es ihn bislang nie so heftig erwischt, aber ein spürbares Absacken des Blutzuckers kam gelegentlich vor. Ein Löffel Marmelade, ein Schluck Cola oder ein Stück Traubenzucker haben immer schnell geholfen.
Krankenhaus?
Der Notarzt checkt die Lage, misst den Blutzucker und bestätigt bei einem Wert von 46 Milligramm pro Deziliter (mg/dl) die Hypoglykämie. Statt Frühstück, wie der Patient es selbst vorschlägt, wird ein EKG angelegt und eine Infusion vorbereitet. Das Fazit lautet: Überwachung und Check im Krankenhaus. Mein Patient will das nicht. Er will nur ein paar Kohlenhydrate. Er ist allerdings noch zu schwach, um sich zu wehren. Also geht‘s ins Krankenhaus.

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