Christkinder (Teil 2)

„Und?“ fragt Opa Wagner.
„Und was?“
„Darf ich heim?“
„Hmmm.“
Ich blättere in der Krankenakte, senke meinen Blick, blättere weiter und spüre, dass ich rot werde.
Opa Wagner ist schwerkrank. Der akute Koronarinfarkt nach Schneeschaufeln ist gerade einmal drei Tage alt: noch am Tag des Geschehens haben wir ihn mit Blaulicht zur Koronarangiographie in die Uniklinik gefahren und am Folgetag von dort zurück bekommen, mit den üblichen Empfehlungen: ASS und Clopidrogel, Betablocker, Statin und ACE-Hemmer und gegebenenfalls kardiologische Reha.
„Eigentlich sollten Sie ja noch ein paar Tage bei uns bleiben…“
„Herr Doktor?“
„Ja?“
„Morgen ist Weihnachten!“
Glaubst Du, ich weiß das nicht, Opa?
Die Visite heute gleicht einem Spießrutenlauf. Genau genommen, gibt es zwei Sorten von Patienten: Die Christkinder und die anderen. Die anderen wollen heim. Die Christkinder vielleicht auch, aber sie können das nicht artikulieren. Opa Wagner jedenfalls gehört zu den anderen.
„Also wenn Sie mir hoch und heilig versprechen, dass Sie sich schonen….“
„Selbstverständlich, Herr Doktor!“
Schwer seufzend mache ich mir eine Notiz auf meinem Zettel. Auf dem Zettel stehen schon eine Menge Namen. Genau genommen zwölf Stück. Zwölf Entlassbriefe, die ich heute noch fertig machen muss. Wenn man pro Brief zwanzig Minuten rechnet, dann…
„Wann kann ich dann heim, Herr Doktor?“
„Heute Nachmittag.“
„Also, meine Tochter würde mich dann um halb zwölf abholen, wäre halt nicht schlecht, wenn die Papiere dann schon fertig wären…“
Glaubst Du, ich könnte hexen, oder was? Abgesehen davon muss ich ja noch die Reha organisieren. Und, und, und….

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