Hausarzt Dr. Kunze hört (nicht) auf 25

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Heiligabend
Anselm Kunze öffnete das schwere Kirchenportal und ließ seiner Frau den Vortritt. Sie lächelte und wollte forsch voranschreiten, aber das war nicht möglich. Im Vorraum herrschte dichtes Gedränge und von hinten rückten weitere Besucher nach. Kunzes wurden geschoben. Es war eng und stickig. Der Stau entstand durch Unentschlossenheit im Durchgang zum Mittelschiff.
Hausarzt Dr. Kunze erwiderte Grüße, ein kurzes Kopfnicken hier, ein flüchtiger Händedruck da. Von unten piepste es:
„Hallo, Onkel Doktor!“
Der Arzt sah Richtung Kirchenboden und entdeckte Lotta oder Lena, das wusste er nicht so genau. Flüsternd fragte er, ob schon Bescherung gewesen sei.
„Nein, doch erst nach der Kirche. Weißt du das denn nicht?“
Wie konnte man so alt sein wie der Doktor und das Wesentliche nicht wissen. Erwachsene wussten doch sonst immer alles!
„Ach, natürlich!“
Dr. Kunze schüttelte über sich selbst den Kopf und winkte zum Gruß. Vorn ging es weiter.
Von links hob Getuschel an und die Menge drängte dort ein wenig auseinander. Der Küster bahnte sich einen Weg gegen den Strom, direkt auf ihn zu.
Jetzt passiert‘s, dachte der Hausarzt. Jetzt höre ich am Heiligen Abend, kurz vor dem Krippenspiel, den neuesten Lagebericht von der operierten Schulter. Aber warum sollte es hier anders sein als beim Einkaufen, im Kino, an der Tankstelle. Oder ging es jemandem nicht gut? War jemand weiter vorn in der Kirche zusammengebrochen?
„Herr Doktor, Herr Doktor!“
Der Küster winkte ihn aufgeregt heran. Anselm Kunze reagierte mit fragender Miene. Seine Frau bemerkte die kleine Szene und schob ihren Mann entschlossen in Richtung Durchgang, weg von dem Küster. Jetzt war Heiligabend und sonst nichts.
Aber der Küster stand schon neben ihrem Mann und flüsterte ihm etwas ins Ohr.
„Doktor, hier entlang. Ich habe Ihnen zwei schöne Plätze reserviert. Kommen Sie. Hier ganz vorn.“
Er wies auf zwei Plätze im linken Seitenschiff. Aha, deswegen hatte der Patient zwei Tage zuvor also gefragt, welchen Gottesdienst der Hausarzt und seine Frau am Heiligen Abend besuchen wollten. Den um siebzehn Uhr, hatte Anselm Kunze geantwortet und dabei an seine Kinder gedacht. Tochter und Sohn hatten ihren Besuch angekündigt. Beide hatten auch am Heiligen Abend nicht vor, die Kirche zu besuchen, und so würde man mehr Zeit füreinander haben, wenn die alten Kunzes den Gottesdienst schon hinter sich hatten.
Der Küster zupfte ein wenig am Mantelärmel seines Hausarztes und bedeutete, er habe noch zu tun. Die zahlreichen brennenden Kerzen und das übervolle Kirchenhaus waren wie jedes Jahr eine besondere Herausforderung.
Der Arzt freute sich auch für seine Frau über die schönen Plätze und fragte sich zugleich, was wohl die Leute denken würden.
„Ah, der Herr Doktor ist etwas Besseres, wird gleich nach vorn durchgewunken.“
Oder:
„Alle Menschen sind gleich, außer den Ärzten, die sind gleicher.“
Aber andererseits, wie enttäuscht würde der Küster sein, wenn sein Hausarzt den kleinen Dienst verschmähte? Der Mann strahlte regelrecht, weil er dem Arzt, der seiner Mutter und ihm selbst so geholfen hatte, etwas Gutes tun konnte. Anselm Kunze wog noch ab, da war der Weg ins linke Seitenschiff längst eingeschlagen. Seine Frau und der Küster hatten eine Entscheidung getroffen.
Als das Ehepaar Kunze saß, blieben noch einige Minuten Zeit bis zum Beginn des Gottesdienstes. Der Hausarzt sah ein wenig umher und grüßte still. Er nickte und lächelte Richtung Mittelschiff und Richtung Eingang. Er war mit vielen Kirchenbesuchern gut bekannt, etliche waren Patienten und begleiteten ihn schon Jahre durchs Leben – und er sie. Mit ihnen hatte er vielleicht mehr Zeit verbracht, als mit der eigenen Familie.
Während er versuchte ein bisschen in sich zu gehen, erahnte Anselm Kunze von rechts oben eine schattenhafte Bewegung. Als er hinsah, winkte ihm die kleine Lotta oder Lena zu. Der Arzt winkte zurück, dann stupste ihn seine Frau an und fragte flüsternd:
„Wie geht‘s eigentlich der Mutter des Küsters?“
„Wieder ganz gut. Noch ein bisschen wackelig auf den Beinen, aber es geht.“
Nach einem Augenblick der Stille:
„Wie heißt noch das Ehepaar da drüben, gleich neben den Kellers?“
Das waren die Grabbes.
Dann:
„Dein Kollege Krohne ist auch da, mit seiner Frau. Drüben im hinteren Gang gehen sie gerade nach vorn. Jetzt sehen sie rüber zu uns.“
Ehepaar Kunze grüßte hinüber. Selbst von fern sah der Kollege müde aus. Wollte er nicht schon im Herbst seine Praxis übergeben? Aber dann erinnerte sich Anselm Kunze daran, dass es irgendeinen Konflikt mit dem Nachfolger gegeben hatte. Wahrscheinlich war es um Geld gegangen. Es ging doch immer um Geld, auch in seinem Beruf.
Herr Bolte wurde im Rollstuhl ganz nach vorn geschoben. Er erkannte seinen Hausarzt und brüllte:
„Schöne Feiertage, erholen Sie sich gut!“
Herr Bolte war schwerhörig und hatte seine Stimme nicht im Griff. Für einen Augenblick war es wie auf einem Tennisplatz: Aufschlag Dr. Kunze und alle Blicke waren auf ihn gerichtet.
Danach grüßten der Installateur, der erst kürzlich in der Praxis einen Wasserschaden repariert hatte, der Apothekeninhaber von nebenan und der Herr vom Schlüsseldienst, wie hieß er noch?
Zur inneren Einkehr blieben noch zwei Minuten. Nein, doch nicht: Der Küster näherte sich, diesmal mit seiner Mutter am Arm. Der freie Platz neben dem Hausarzt war für sie gedacht. So war das also: Gute Plätze gegen ärztliche Aufsicht.
Die Kunzes lächelten milde. Heiligabend.

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