Erlebnisse und Begegnungen, Schlagzeilen und Ereignisse: Wir haben Persönlichkeiten aus der Aidsprävention und Aidshilfebewegung gefragt, was vom Jahr 2010 in Erinnerung bleibt und was uns weiter beschäftigen wird.
Prof. Dr. Elisabeth Pott, Direktorin der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA): Ganz wichtig war für mich in 2010 die Frage, was haben wir in 25 Jahren Aidsprävention erreicht? Im Jahr 2010 blicken wir auf 25 Jahre Aidsprävention in Deutschland zurück. Genau vor 25 Jahren hat die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) begonnen, die Arbeit der Deutschen AIDS-Hilfe (DAH) zu fördern. So entstand das „deutsche Modell“ der arbeitsteiligen Zusammenarbeit zwischen Staat und Selbsthilfe in der Aidsprävention. Diese Struktur ist bis heute im internationalen Vergleich einmalig. Sie ist die wesentliche Grundlage für den Erfolg der Aidsprävention in Deutschland. Im westeuropäischen Vergleich steht Deutschland heute bei den HIV-Neudiagnosen mit auf dem niedrigsten Platz.
Zu erfolgreicher Prävention gehört unabdingbar Solidarität mit Betroffenen. Gemeinsam haben BZgA und DAH deshalb in diesem Jahr Solidarität mit Menschen mit HIV/Aids zum Schwerpunktthema der Welt-Aids-Tags-Kampagne gemacht. Denn selbst heute noch erleben Betroffene auch in Deutschland ihre Lebenssituation oft als schwierig, weil sie konkrete Nachteile erfahren oder befürchten. Diese Strategie gegen Ausgrenzung und Stigmatisierung werden wir in den nächsten Jahren weiter in den Mittelpunkt stellen.
Gayle Tufts, Entertainerin: Zwei Dinge sind mir im Zusammenhang mit Aids aus 2010 im Gedächtnis haften geblieben. Anfang des Jahres hatten wir nach meinen Shows in Berlin im Foyer für die Aids-Hilfe gesammelt. Immerhin sind dabei rund 3.500 Euro zusammengekommen. Ungewohnt war aber, dass viele Zuschauer uns mit unseren Sammelbüchsen beschimpften: „Wer weiß, wo das Geld wirklich landet“. Der Skandal um die Masarati-Affäre der Treberhilfe war gerade täglich in den Schlagzeilen. Manche Dinge werden von den Leuten erst wahrgenommen, wenn etwas schiefgeht. Bei der Arbeit der Aidshilfen beispielsweise ist eine gewisse Normalität eingekehrt. Man weiß, es gibt sie, aber im allgemeinen Bewusstsein ist sie kaum noch präsent.
Damit komme ich dann auch zum anderen wichtigen Punkt: die No Angels-Sängerin Nadja Benaissa. So schlimm für sie das alles persönlich auch gewesen sein mag, so wichtig war es, dass dadurch das Thema Aids wieder breiter ins öffentliche Bewusstsein gekommen ist. Entscheidend war, dass es hier nicht um einen Schwulen oder Junkie ging, sondern um eine erfolgreiche junge Frau. Damit dürfte sie einen unschätzbaren Beitrag geleistet haben, die Menschen wieder zum Nachdenken in Sachen HIV und Aids bewegen.
Prof. Dr. Rolf Rosenbrock, Leiter der Forschungsgruppe Public Health im Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung: Wenn ich auf das Jahr 2010 zurückschaue, fällt mir zu allererst die aus meiner Ansicht viel zu wenig zur Kenntnis genommene gute Nachricht von UNAIDS ein: Die Anzahl der Neuinfektionen ist in den letzten zehn Jahren um 20 Prozent zurückgegangen, in Subsahara-Afrika sogar um 25 Prozent. Das bedeutet nicht weniger, als dass es möglich geworden ist, in der Pandemie eine Trendwende zu erreichen. Wenn sich das stabilisiert, und die Zahlen deuten darauf hin, ist dies eine Sensation. Auch wenn wir im Einzelfall nicht wissen, woran dies liegt, ist es insgesamt ein Sieg von „New Public Health“ im Sinne an einer an Menschenrechten und Partizipation orientierten Gesundheitspolitik. In den Medien stand im Vordergrund, dass von den 33 Millionen weltweit infizierten Menschen zehn Millionen immer noch keinen Zugang zu HIV-Medikamenten haben und dass dafür mehr Geld benötigt wird. Das ist sicher richtig und wichtig. Nicht weniger wichtig aber erscheint mir die Herausforderung, die Anzahl der Neuinfektionen durch verstärkte und an models of good practice orientierte Anstrengungen der sozialen Prävention weiter zu senken. Die Tatsache, dass Aids behandelbar geworden ist, ändert nichts an der Priorität der Primärprävention, erst recht nicht, wenn jetzt klar ist, dass sie auch im globalen Maßstab wirkt.
Weniger schön war die Erfahrung, die ich als Mitglied einer Technial Advisory Group machen durfte, deren Aufgabe es war, eine neue HIV Testing Policy Guidance für die Europäische Union entwerfen. Ich war erschüttert darüber, wie sehr auch bei Community-Vertretern und sozialwissenschaftlich ausgebildeten Aids-Funktionären die Vorstellung immer noch Platz hat, dass das Testen auf HIV per se ein Gewinn für die Prävention sei und wie wenig zur Kenntnis genommen wird, was die Deutsche AIDS-Hilfe verdienstvollerweise unter dem Thema „strukturierte Lernsituation“ in die Diskussion eingebracht hat. Die Vorstellung, dass sich ein Mensch nach der Mitteilung seines positiven oder negativen Testbefundes automatisch sicherer verhält, gehört offensichtlich zum ärztlichen Menschenbild. Dagegen kämpfen wir schon immer an. Inwieweit dies aber noch immer auch bei Community-Vertretern anschlussfähig ist, fand ich erschütternd.
Im Rückblick auf das zurückliegende Jahr sticht aber auch noch eine sehr positive Erfahrung heraus, die ich gemacht habe, als ich mir im Auftrag der Senatsverwaltung das nichtmedizinische HIV/Aids-Versorgungssystem in Berlin näher angesehen habe. Dort ist etwas entstanden, was in Hinblick auf Integration, Nutzerorientierung und Qualität keinerlei Vergleich mit dem medizinischen System scheuen muss. Beeindruckt hat mich auch, dort immer wieder auf Menschen zu treffen, die – zum Teil seit Jahrzehnten – abseits der Öffentlichkeit und unter stetem Geldmangel engagierte und professionelle Arbeit leisten.
Ulrich Würdemann, Blogger ( www.ondamaris.de):
1. Kriminalisierung
Mich bewegt zunehmend das Gefühl, dass immer mehr HIV-Positive in Deutschland, aber auch in unseren Nachbarländern vor Ermittlern, Staatsanwälten oder gar vor Gericht landen. Die medizinische Situation für Positive entspannt sich, dafür nimmt der juristische Druck, die Kriminalisierung anscheinend zu. Bis hin zu mir bizarr erscheinenden Konstellationen wie einem Schadenersatz für PEP-Medikamente, wie jüngst in Köln.
2. Nadja Benaissa
Sehr bewegt hat mich, wie Nadja Benaissa mit ihrem Prozess und mit dem Urteil sowie generell mit ihrer HIV-Infektion umgegangen ist (und wie sich das im Laufe der Zeit verändert hat). Ich denke, viele (auch viele Positive) unterschätzen die Bedeutung dieser Angelegenheit. Dieser eine „Fall“ hat sehr viel Aufmerksamkeit bis ins kleinste Provinzblatt, bis in die vorletzte Apothekerzeitung und Bäckerblume gebracht, hat so intensiv Bilder vom Leben mit HIV präsentiert und vermittelt, zu so vielen Gedanken, Fragen und Nachfragen geführt.
3. „Normalisierung“
Der oft und mit zunehmender Tendenz, auch von Positiven und Aidshilfen, verwendete Begriff „Normalisierung“ wird mir zunehmend suspekt. Für viele HIV-Positive ist ihr persönliches Leben mit HIV alles andere als „normal“ – ob es sich nun um eine an Aids erkrankte Frau, einen HIV-positiven Migranten mit illegalem Aufenthaltsstatus oder einen HIV-positiven Schwulen in höherem Lebensalter handelt, um nur drei Beispiele zu nennen. So sehr ich die Beweggründe verstehe – ich denke, HIV-infiziert zu sein wird nie „normal“ werden, das Stigma der Grenzverletzung wird bleiben, so sehr wir auch schrubben und weiß waschen. Brauchen wir andere Begrifflichkeiten? Wie gehen wir weiter um mit dem, was „Normalisierung“ genannt wird?
4. Prävention
Lange gab es nur Kondome und Safer Sex. Im Jahr 2010 ist das Arsenal deutlich breiter geworden – von Beschneidung bis Viruslast-Methode über Mikrobizide bis zu PrEP. 2010 hat hier viel Bewegung gebracht. Mehr Werkzeuge – mehr Chancen für viele verschiedene realitätsnahe Präventions-Ansätze? Andererseits führt die veränderte Situation auch dazu, dass andere Akteure wie Ärzte oder Pharmaindustrie zunehmend in die Prävention vordringen – zu welchem Preis? Mit welchen Konsequenzen?
Marcel Dams, Blogger und Botschafter des Welt-Aids-Tages: Wenn ich an meinen bewegendsten Moment in Sachen HIV und Aids des zurückliegenden Jahres denke, dann gibt es da nicht „den einen“ Moment, sondern es ist viel mehr der Rückblick auf dieses Jahr, weil mich so viele Menschen bewegt und teilweise auch überrascht haben. Es ist auch im Jahr 2010 nicht selbstverständlich, dass man sich outen kann, ohne Repressalien oder Unverständnis sowie Ausgrenzung fürchten zu müssen. Dass meine Familie, meine Freunde und mein Arbeitgeber aber immer zu mir gestanden haben, ist für mich das Tollste, was in diesem Jahr passiert ist. Für diese Menschen, die mich privat kennen und immer noch da sind, obwohl sie von meinem HIV-Status wissen, bin ich sehr dankbar, denn ein gutes Umfeld sorgt für eine bessere Lebensqualität und macht die Dinge um einiges leichter. Kurz gefasst: Meine Angst zu überwinden und mit anderen über meine Infektion zu sprechen, war wahrscheinlich der Moment des vergangen Jahres, der mich am meisten geprägt hat, weil er so viel Tolles nach sich gezogen hat.
Bewundert nicht diejenigen, die etwas Ungewöhnliches, etwa ein HIV-Coming-out, schaffen, sondern lieber euch selber. Ich glaube, der größte Fehler, den wir alle machen, ist, immer andere anzusehen und dabei zu übersehen, was wir selber können und bereits tun. Ich z.B. finde das, was ich tue, alles andere als mutig oder bewundernswert. Ich wünsche jedem die Kraft und die Freude, alle Hürden zu überspringen und das Leben in vollen Zügen genießen zu können!
Dr. med. Christoph Mayr, HIV-Schwerpunktarzt in Berlin: Das wichtigste politische Ereignis in Sachen HIV und Aids war für mich, dass das Einreiseverbot in die USA für infizierte Menschen der Vergangenheit angehört. Wie einschneidend und wichtig diese Entscheidung Barack Obamas ist, kann ich, auch in meiner Funktion als Vorstand der Deutschen Arbeitsgemeinschaft niedergelassener Ärzte in der Versorgung HIV-Infizierter e.V., gar nicht stark genug betonen. Aber auch ein besonderes Erlebnis aus meiner ärztlichen Praxisarbeit möchte ich nicht vorenthalten. Vor kurzem hatte ich die erste von Geburt an HIV-infizierte Patientin, die nun schwanger geworden ist. Solche Fälle wird es in Zukunft sicherlich öfter geben. Dank antiretroviraler Therapien kann man heute, anders als seinerzeit bei der Mutter dieser jungen Frau, verhindern, dass das Virus in der Schwangerschaft auf das Kind übertragen wird.
Carsten Schatz, Vorstand der Deutschen AIDS-Hilfe: 2010 wird mir als das Jahr in Erinnerung bleiben, das die andauernde Kriminalisierung der HIV-Transmission in Deutschland in unser Bewusstsein zurückgeholt hat. Mit dem Urteil gegen Nadja Benaissa ist klar geworden, dass sich große Teile der deutschen Öffentlichkeit sicher fühlen, wenn Nichtwissen belohnt wird. Denn was sagt das Urteil gegen Frau Benaissa und alle anderen Urteile der letzten Jahre? Nur wer von der eigenen Infektion weiß, kann nach der Konstruktion des Bundesgerichtshofes aus dem Jahre 1988 belangt werden. Wissen und entsprechendes Handeln werden also nicht belohnt, sondern ein (!) Ausrutscher wird sanktioniert, im schlimmsten Falle mit Knast. Ergo scheint die durch Nichtwissen vermittelte „Sicherheit“ den Verantwortlichen in der Politik wichtiger zu sein als aufgeklärte, in Abwägungen verantwortlich handelnde Menschen. Mir ist dadurch klar geworden, dass wir diese letzte Bastion Gauweilerscher Aids-Politik in Deutschland endlich schleifen müssen. Auch wenn die durch stabile antiretrovirale Therapie nicht vorhandene Infektiosität für manche eine Erleichterung darstellt und im rechtlichen Falle bereits zu einem Freispruch führte, muss klar sein: einvernehmliche sexuelle Kontakte zwischen Erwachsenen und ihre Folgen gehen den Staat nichts an. Dafür gilt es in den nächsten Jahren die Ärmel hochzukrempeln.
Paul Schulz, Redakteur von „M+“: 2010 war das bislang HIV-positivste Jahr in meiner Berufslaufbahn. Vier Kurzfilme für die DAH mit über 20 Protagonisten, ein halbes Jahr jeden Tag für IWWIT bloggen und seit August Redakteur von MÄNNER – und damit auch der M+. Was mich schon als Autor der M+ gefreut hat, macht mir als Redakteur noch mehr Spaß: Berichterstattung über HIV und Aids, ohne dass irgendjemand ein „Opfer“ sein muss, ohne negative, aber eben auch ohne positive Stigmatisierung. Einfach Geschichten von Leuten erzählen, die ein Plus mehr in ihrem Leben haben als andere.
Das führt immer wieder zu erstaunlichen Begegnungen mit tollen Menschen. Egal ob mir Nadja Benaissa ihre Geschichte erzählt, während eine ihrer Bandkolleginnen sich um ihr Kind kümmert, mich Jake Shears von den Scissor Sisters um die sexuelle Freiheit in Berlin beneidet, ich IWITT-Rollenmodell Stephan vor grünen Wänden imaginäre Mauersteine stemmen lasse und wir uns dabei totlachen oder ich mich mit Andrea von Lieven darüber unterhalte, warum man als Positive zu viel arbeitet: Es sind die vielfältigen An- und Einsichten, die meine eigene Arbeit unglaublich spannend machen. Ich hoffe, das geht im nächsten Jahr so weiter. Schön wär’s.
Axel Schock/hs