Herr Wagner ist ein rüstiger Rentner. Er ist Mitte siebzig und bewohnt mit seiner Frau ein kleines Einfamilienhaus am Stadtrand. Heute aber geht’s ihm gar nicht gut.
„Haben Sie nicht eine Aufbauspritze für mich?“ fragt er.
„Wo fehlt’s Ihnen denn?“
„Ich muss mich verhoben haben. Vielleicht eine Muskelzerrung oder so, Herr Doktor!“
„Verhoben?“
„Beim Schneeschaufeln heute früh.“
„Aha?“
„Ja, wissen Sie, wir haben ein Eckgrundstück… das sind jeweils dreißig Meter Bürgersteit an jeder Seite!“
„Und das machen Sie ganz allein?“
„Natürlich, Herr Doktor! Gleich nach dem Wetterbericht im Fernsehen gestern Abend habe ich mir den Wecker gestellt auf fünf Uhr.“
„Fünf Uhr früh?“ Ich schüttele ungläubig den Kopf, „ist das wirklich notwendig?“
„Selbstverständlich, Herr Doktor! Sonst wäre ich doch niemals um sechs Uhr fertig. Wissen Sie, die Stadt hat ja das Streusalz verboten. Aus Umweltgründen, wegen der Bäume. Da dauert das Schneeschaufeln natürlich ein wenig länger…“
Ich schiele auf die Adresse. Eine ruhige Nebenstraße in einer gutbürgerlichen Wohnsiedlung.
„Warum um alles in der Welt müssen Sie denn da morgens um sechs Uhr den Bürgersteig freigeschaufelt haben? In Ihrer Gegend ist doch um diese Zeit noch kein Mensch unterwegs!“
„Darum geht es ja nicht. Um sechs Uhr müssen die Straßen geräumt sein. Das ist so Pflicht bei uns. Wissen Sie das nicht?“
Weiterhin kopfschüttelnd untersuche ich den Patienten. Er sieht wirklich nicht gut aus. Und fünf Minuten später weiß ich auch warum: Das EKG zeigt einen akuten Vorderwandinfarkt.
Soviel zum Thema Muskelzerrung.