1982 kam die New Yorker Fotografin Nan Goldin zum ersten Mal nach Berlin – und verliebte sich nicht nur in die Stadt, sondern auch in die Menschen. Eine Ausstellung in der Berlinischen Galerie zeigt nun ihre intimen Porträts.
80 ausgewählte Fotografien, allesamt entstanden im Berlin der Jahre 1994 bis 2009, hängen, auf Papier gezogen und gerahmt, sorgfältig platziert an farblich abgestimmten Wänden. Es sind Selbstporträts der heute 57-jährigen Künstlerin und Momentaufnahmen aus dem Leben ihrer Freunde, die immer auch ihre Wahlfamilie sind: Szenen, die in Wohngemeinschaften und Bars, Hotelzimmern oder einfach nur auf der Straße aufgenommen wurden, Bilder von Musikern wie Blixa Bargeld von den „Einstürzenden Neubauten“, dem Künstler Piotr Nathan oder den Bandmitgliedern der Avantgarde-Gruppe „Die tödliche Doris“. Nichts ist inszeniert, jedes einzelne Bild so ehrlich, intim und nah, dass man als Betrachter meint, in einem privaten Fotoalbum zu blättern.
Als die US-Amerikanerin Nan Goldin Ende der 70er Jahren damit begann, ihr Leben und ihre Freunde aus der Künstlerszene und die Underdogs von New York fotografisch festzuhalten, waren diese Bilder zunächst nicht dazu gedacht, einmal an Museumswänden zu hängen. Für die unverstellten Momentaufnahmen aus ihrem Leben mit Junkies, Drag Queens, Transvestiten, Schwulen und Underdogs hatte sie eine eigene Form gefunden: Diashows mit jeweils speziell konzipierten Collagen aus Pop- und Rocksongs.
Alf Bold, damals Programmleiter des Arsenal-Kinos, lud Nan Goldin 1982 mit ihrer Show „Die Ballade von der sexuellen Hörigkeit“ nach Berlin ein und stellte die Künstlerin dem deutschen Publikum vor. Goldin wurde mit offenen Armen empfangen und besuchte die Stadt in den folgenden Jahren immer wieder.
1991, nachdem sie erfolgreich einen Drogenentzug hinter sich gebracht hatte, erhielt sie ein Berlin-Stipendium des Deutschen Akademischen Austauschdienstes– und blieb bis 1994. Es seien die besten Jahre ihres Lebens gewesen, sagt sie heute. Berlin sei damals „ein einziger Underground“ gewesen, eine „rettende Insel für einen bestimmten Stamm Menschen, die Deutschland verlassen und doch bleiben wollten“. So, wie es für Amerikaner New York gewesen war. Und wie zuvor im Big Apple lebte Nan Goldin auch im West-Berlin der letzten Vor- und ersten Nachwendejahre intensiv und exzessiv in einem wachsenden Netzwerk aus Freund- und Liebschaften und fotografierte diese Menschen geradezu manisch, aus Angst, sie sonst zu verlieren.
In New York wie in Berlin war sie in einer Boheme zu Hause, in der gesellschaftliche Normen wie Geschlechtergrenzen gesprengt und aufgehoben wurden, in der allerdings auch Drogen und Gewalt, Sex und Suff, Chaos und Absturz zum Alltag gehörten. Als ihr amerikanischer Freund sie in Berlin derart zusammenschlug, dass sie fürchten musste, auf einem Auge zu erblinden, hielt sie diese Verletzung mit der gleichen schonungslosen Offenheit mit ihrer Kamera fest wie die Momente von Intimität, absoluter Nacktheit, Einsamkeit und Traurigkeit, in denen sie ihre Freunde fotografierte. Das Selbstporträt von 1984 mit grün und blau geschlagenen Augen, aufgenommen vor einem Badezimmerspiegel in einem Berliner Hotel, machte sie schlagartig berühmt.
Ganze Heerscharen von Fotografen hat Nan Goldin seither mit ihrer Form der Dokumentarfotografie beeinflusst. Ihre Kunst kommt ohne das offensichtlich Kunstvolle aus. Mit ihrer Selbstoffenbarung, der Emphatie und wahren Leidenschaft für die Porträtierten hebt sie auch für den Betrachter Grenzen auf und entdeckt Zauber, Poesie und Geheimnis im Alltäglichen und vermeintlich Beiläufigen. Diese Form der radikalen Intimität schockiert auch nach über 30 Jahren noch.
Viele der damals geschlossenen Freundschaften hätten bis heute überdauert, erzählt Goldin bei der Pressekonferenz zur Berliner Ausstellung. Viele Freunde seien aber bereits gestorben, in Berlin gleichermaßen wie in New York: „Zu viele sind es. Hunderte. Ich versuche so, die Leute bei mir zu behalten. Ich will mit meinen Bildern an sie erinnern.“
Manche seien an einer Überdosis gestorben, die meisten hingegen an den Folgen von Aids. „Mitte der 80er Jahre war bereits eine ganze Reihe von Freunden gestorben, andere waren HIV-positiv und kämpften ums Überleben. Der Glanz der Selbstzerstörung war ab und hinterließ uns echten Tod“, so beschreibt Goldin es im Vorwort zu ihrem Fotoband „Ein doppeltes Leben“.
Auch in ihrem Berliner Freundeskreis hat sie Menschen verloren, Nikolaus Utermöhlen von „Die Tödliche Doris“ etwa oder auch Alf Bold – Goldins Aufnahmen aus seinen letzten Lebenstagen ist in der Ausstellung eine ganze Wand gewidmet. 1992 hat sie Alf auf einer Party fotografiert: Sein Blick ist seltsam abwesend ins Leere gerichtet, geradezu grotesk erscheint dazu das Smiley-Grinsen auf den Lämpchen einer Lichtergirlande. Das letzte Bild zeigt ihn aufgebahrt in seinem Krankenbett in Berlin.
Viele ihrer Bilder verströmen diese Aura des Abschieds, der Melancholie, vielleicht auch weil Nan Goldin die Menschen unablässig mit der Kamera für das fotografische Tagebuch ihres Lebens festhielt, um sich damit ein Stückweit auch ihrer Nähe, ihrer Liebe oder ganz schlicht ihres Hier-Seins zu versichern. Vor allem aber, weil Nan Goldin sich in diesen Bildern und den darin verborgenen Geschichten stets auch selbst spiegelt, mit ihrer eigenen Verletzlichkeit, ihren Ängsten und Sehnsüchten. Bilder zu machen, so Goldin, sei für sie eine Art, jemanden zu berühren, eine Form von Zärtlichkeit.
Melancholisch stimmen diese Bilder nicht zuletzt auch, weil sie von einer längst vergangenen Zeit erzählen. Dieses West-Berlin mit Szeneorten wie der Kreuzberger „O-Bar“, der Diskothek „Dschungel“ oder der Musiker-Absturzkneipe „Risiko“ sind längst im wahrsten Sinne Lokalgeschichte. Diese Form von Boheme und Underground gibt es in Berlin schon lange nicht mehr. Die Insel West-Berlin ist mit der Wiedervereinigung endgültig verschwunden.
Axel Schock
„Nan Goldin – Berlin Work. Fotografien 1984–2009“. Berlinische Galerie, Alte-Jakob-Straße 124–128 (U-Bahnhof Moritzplatz). Bis 28. März 2011, Mi–Mo 10–18 Uhr, Eintritt 8, ermäßigt 5 Euro.