„Die sieht ja aus wie der Tod auf Urlaub!“ sagt Jenny halblaut, natürlich so dass Frau Wiebelstein es nicht mitkriegt. Damit liegt sie gar nicht so falsch. Frau Wiebelstein hat nämlich ein fortgeschrittenes Bronchialkarzinom mit mehreren Metastasen und kommt jetzt zur Chemotherapie.
Wieder einmal. Beim letzten Mal war sie vielleicht noch nicht ganz so ausgemergelt wie jetzt. Und die blauen Flecken auf den Armen und im Gesicht, die waren auch noch nicht da.
„Wo kommen die her?“ frage ich vorsichtig.
Die Patientin wird rot und weicht meinem Blick aus.
„Ach die… ich bin… äh… letzens die Treppe runtergefallen!“
Das nehme ich mal so zur Kenntnis, aber in meinem Hinterkopf blinkt jetzt eine kleine Alarmleuchte. Irgendwas stimmt da nicht!
„Was soll denn da nicht stimmen?“ fragt Jenny.
„Man fällt nun einmal nicht einfach so eine Treppe hinunter!“
„Vielleicht hatte sie ja einen Schwächeanfall…“
Schwächeanfall?
Auf medizinisch heißt das Synkope und ist in der Tat bei ihrer Grunderkrankung nicht auszuschließen. Trotzdem bleibe ich skeptisch. Die Sache stinkt zum Himmel!
Ich lege der Patientin einen venösen Zugang und hänge die Chemo-Infusion an. Das ist nämlich Arztsache. Sie könnte ja eine allergische Reaktion bekommen. Was ich in so einem Fall tun würde, weiß ich allerdings auch nicht so richtig, wahrscheinlich erstmal nach der Schwester klingeln. Aber zum Glück hat Frau Wiebelstein keine allergische Reaktion. Wo ihre blauen Flecken herkommen, will sie mir aber immer noch nicht verraten.
Das tut dann Schwester Anna eine Stunde später nach der Übergabe:
„Die sind von ihrem Sohn!“
„Wie bitte?“
„Frau Wiebelstein ist die Mutter von Atze!“
Aha, jetzt beginne ich, zu verstehen.
„Atze? Das ist doch dieser Junkie…“
Schwester Anna nickt.
„Genau. Und der kommt jeden Tag bei der Mama vorbei und will Geld. Wenn die keins hat, verdrischt er sie!“