2011 ist das Europäische Jahr des freiwilligen Engagements. Die Redaktion des d@h_blogs wird sich aus diesem Anlass in loser Folge mit dem Ehrenamt beschäftigen. Zum Auftakt bringen wir ein Interview von Holger Sweers mit Andreas Rau, Leiter der AIDS-Hilfe Hagen.
Andreas, du hast 1995 in der AIDS-Hilfe Hagen die „Lernwerkstatt HIV“ ins Leben gerufen. Was verbirgt sich dahinter?
Die Lernwerkstatt bietet in erster Linie eine Ausbildung für unsere Ehrenamtler, aber auch für andere Multiplikatoren. Und wir lernen auch als Organisation. Im Mittelpunkt steht dabei das Leben mit HIV in all seiner Vielfalt.
Wie lange dauert so eine Lernwerkstatt?
Etwa vier Monate mit einem Termin pro Woche. Dazu kommt ein verlängertes Intensiv-Wochenende zum Thema Lebensweisen und Sexualität und gegen Ende ein Intensiv-Samstag zum Thema Tod, Trauern und Sterbegleitung.
Das klingt ganz schön aufwendig. Wie viele Teilnehmerinnen und Teilnehmer habt ihr im Durchschnitt?
Wir kommen je nach Jahr so auf acht bis fünfzehn, im Schnitt sind es zehn bis zwölf. Davon bleiben dann etwa fünf längerfristig dabei. Manche können wir auch zu besonderen Anlässen aktivieren, zum Beispiel rund um den Welt-Aids-Tag.
Ehrenamtler sind Botschafter der Aidshilfen
Aus welchen Gruppen und Schichten kommen eigentlich die Lernwerkstatt-Teilnehmer?
Bei den Männern sind es hauptsächlich Schwule, und zwar aus allen Berufen. Bei den Frauen haben wir fast nur Heteras, darunter viele Studentinnen, zum Beispiel der Sozialarbeit. Die Altersspanne reicht von 18 bis 60, würde ich mal sagen. Unter den Teilnehmern sind auch Mitarbeiter von Kooperationspartnern, z. B. aus der zentralen Drogenentgiftung in Hagen, aus Behinderteneinrichtungen oder Pflegekräfte aus dem Krankenhaus. Das ist uns sehr wichtig, denn auch, wenn sie nicht für die Aidshilfe arbeiten, sind sie doch Multiplikatoren und tragen Gedanken wie die Akzeptanz verschiedener Lebensweisen und die Solidarität mit Menschen mit HIV in ihre Arbeitsumgebungen.
Wo werden die Ehrenamtler, die langfristig dabei bleiben, eingesetzt?
Eigentlich in allen Bereichen, in denen auch wir bezahlten Mitarbeiter tätig sind. Zum Beispiel in der Vor-Ort-Arbeit in der Schwulenszene, in der Aufklärung für Jugendliche, in der Sterbebegleitung, bei Positiventreffen, in der Telefon- und Onlineberatung, in der Öffentlichkeitsarbeit, bei der Testberatung.
Auf eurer Homepage sagt ihr unter dem Stichwort „Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter“: „Unterschiedliche Personen stehen für unterschiedliche Arbeitsbereiche, und es kommt nicht darauf an, ob sie sogenannte Hauptamtliche sind oder eben ihre Arbeit (wie die meisten hier) ehrenamtlich und damit unbezahlt machen. Entscheidend ist, dass sie ihre Arbeit gerne und qualifiziert machen!“
Ja, genauso sehen wir das. Unsere Teams Beratung, Begleitung, Prävention, Testberatung und Öffentlichkeitsarbeit werden durch Hauptamtler geleitet, haben aber auch Ehrenamts-Schwerpunktsprecher. Natürlich gibt es manchmal auch Konflikte, bei denen letzten Endes der Hauptamtler entscheiden muss. Aber im Großen und Ganzen arbeiten wir mit viel Spaß, sehr partnerschaftlich und auf Augenhöhe zusammen.
Wir arbeiten mit viel Spaß, partnerschaftlich und auf Augenhöhe zusammen
Wie habt ihr die Arbeit der Ehrenamtler organisiert? Und wie stellt ihr sicher, dass sie auf dem aktuellen Stand sind und die Grundwerte der Aidshilfe-Arbeit vertreten?
Einmal im Monat haben wir ein Forum, an dem alle Ehrenamtler teilnehmen sollen – begründete Ausnahmen sind möglich. An den ersten beiden Monaten im Quartal wird Organisatorisches besprochen. Das machen zunächst die Teams unter sich, wobei immer ein Hauptamtler dabei ist. Da geht es dann z. B. um Fallbesprechungen, kollegiale Beratung, Besprechung der Termine und Einsätze. Danach gibt’s ein Plenum, in dem wichtige Infos besprochen werden, also auch neue Erkenntnisse oder Botschaften. Dieses Plenum ist sehr wichtig für uns, denn dadurch erleben sich alle Ehrenamtler als ein großes Team. Der dritte Monat im Quartal ist dann komplett einem Update vorbehalten, das heißt, wir bringen uns viermal im Jahr auf den aktuellen Stand rund um HIV, andere sexuell übertragbare Infektionen und Hepatitis.
Habt ihr manchmal auch Leute dabei, die eigentlich nicht zur Aidshilfe passen, weil sie z. B. Berührungsängste gegenüber Schwulen haben oder Drogengebrauch per se verurteilen?
Ja, das gibt’s. Solche Leute sortieren sich aber meistens selbst aus und bleiben irgendwann einfach weg. Wir führen auch keine Vorgespräche zur Motivationsklärung, sondern wollen, dass die Leute mit der Zeit selbst mitkriegen, was wir machen und wofür wir stehen. Sie sollen dann selbstbestimmt entscheiden, ob wir zu ihnen und ob sie zu uns passen. Dazu gibt es im Lauf der Fortbildung auch (mindestens) ein verpflichtendes Einzel- Supervisionsgespräch, und weitere Einzelgespräche sind jederzeit möglich.
Wer nicht zur Aidshilfe passt, sortiert sich meistens selbst aus
Müsst ihr trotzdem in Einzelfällen auch sagen: Du passt nicht zu uns, das geht so nicht?
Das ist in all den Jahren höchst selten vorgekommen. Ein Fall war zum Beispiel eine Stalkerin. Eine Frau hatte sich in mich verliebt und stellte mir nach – und außerdem auch Mitarbeitern anderer Aidshilfen, wie sich später herausstellte. Aber das hatte ja nichts mit dem Ehrenamt an sich zu tun.
Ehrenamt ist ja eine Form von unbezahlter Arbeit. Wie haltet ihr eure Leute eigentlich bei der Stange, was könnt ihr ihnen bieten?
Da ist zunächst schon mal die Ausbildung. Die vermittelt neben Wissen vor allem auch Fertigkeiten, von Gesprächsführung über Beratungskompetenz bis hin zu Präsentationstechniken. Außerdem setzen sich die Teilnehmer mit ihrem Selbstverständnis und mit verschiedenen Lebensweisen auseinander und stärken so ihre Sozialkompetenz. Dann machen wir jedes Jahr zu Weihnachten eine große Jahresabschlussparty, und auch sonst feiern wir zusammen, zum Beispiel ein Sommerfest oder Grillfeste. Und nicht zuletzt bekommen die Teilnehmer ein Zertifikat für die Lernwerkstatt und in Zusammenarbeit mit dem Land und dem Aidshilfe-Landesverband auch einen Ehrenamtler-Nachweis, den man z. B. Bewerbungen beilegen kann.
Was kostet so eine Fortbildung, und wie finanziert ihr das Ganze?
Verglichen mit den Marktpreisen ist unsere Lernwerkstatt extrem günstig: Die Teilnehmer zahlen einen Jahresbeitrag für die Aidshilfe-Mitgliedschaft, nämlich 70 Euro. Für Geringverdiener gibt es einen eigenen Tarif. Wer Mitglied der Aidshilfe ist oder wird, zahlt nur seinen Jahresbeitrag, bekommt die Lernwerkstatt also im Prinzip umsonst. Finanziert wird das vor allem aus Eigenmitteln, die Teilnehmerbeiträge selbst würden gerade mal für das Intensivwochenende reichen.
Das heißt dann wohl, ihr versprecht euch eine Menge von der Lernwerkstatt.
Klar, sonst würden wir ja nicht so viel Zeit, Arbeitskraft und Geld investieren. Wie gesagt, zum einen schicken wir damit gewissermaßen Botschafter der Aidshilfe in die Welt, und zum anderen erreichen wir gemeinsam viel mehr, als wir das allein mit unserem kleinen Hauptamtler-Team könnten. Außerdem helfen Ehrenamtler uns, nicht betriebsblind zu werden und den Kontakt zur Basis zu halten.
Die Lernwerkstatt HIV bietet enorm viel und kostet extrem wenig
Ich habe gelesen, dass am Ende der Ausbildung eine Prüfung steht. Wie sieht die aus?
Die Prüfung hat einen praktischen und einen theoretischen Teil. Im theoretischen Teil geht es um Grundlagen, z. B. Immunologie, Epidemiologie, Kommunikation, Interaktion, Beratung usw. Für den praktischen Teil bereiten Teams aus drei bis vier Leuten wichtige Fakten aus den einzelnen Fortbildungsabschnitten auf und präsentieren sie so, dass sie mehrere Sinne ansprechen. Das heißt, es muss etwas zu tun, etwas zu hören und etwas zu sehen geben. Einige sind vor den Prüfungen sehr aufgeregt, aber jeder Teilnehmer hat einen Mentor, der ihm helfen kann.
Was passiert nach der Prüfung? Geht’s dann gleich los mit der Arbeit? Und wer entscheidet, wer in welchem Team eingesetzt wird?
Es machen ja nicht alle Teilnehmer in der Aidshilfe weiter. Wer dabei bleibt, hospitiert nach der Prüfung erst mal in einem Team. Die Teilnehmer haben die Teams ja vorher schon alle kennengelernt, und sie und wir wissen anschließend ganz gut, wo sie am besten hinpassen. Nachdem sie hospitiert haben, entwickeln wir gemeinsam mit dem jeweiligen Team- und Teamsprechereine Art Fahrplan, bis sie selbst flügge geworden sind. Bei der Beratung z. B. müssen sie erst eine Schulung beim Aidshilfe-Bundesverband machen. Schon während der Lernwerkstatt können sie aber hospitieren – hören erst mal nur zu, gehen dann selbst ans Telefon, melden sich und reichen den Hörer weiter, werten gemeinsam mit dem Berater das Gespräch aus und protokollieren es im „Beratungsbogen“, bis sie schließlich irgendwann die erste eigene Beratung machen können.
Vielen Dank, Andreas, für diesen interessanten Einblick. Wenn wir das Ganze jetzt in einem Spruch zusammenfassen wollten, würdest du dann sagen „Ehrenamt ist unbezahlbar“?
Nein, ich würde sagen, Ehrenamt bringt’s – für beide Seiten.