Über Bad Dingenskirchen dämmert soeben der dritte Morgen des neuen Jahres herauf und mit dem Morgengrauen beginnt mal wieder der Ernst des Lebens: der erste reguläre Arbeitstag nach den Feiertagen.
Fit und ausgeschlafen mache ich mich auf den Weg zu meiner Arbeitsstätte.
Der Pförtner blickt kurz von seiner Zeitung auf und tut wie immer so als hätte er meinen Gruß nicht bemerkt.
Tapptapptapp, die Treppe rauf. Schlurfschlurfschlurf, ins Schwesternzimmer.
„Ein wunderschönes Frohes Neues Jahr, allerseits!“
Meine gute Laune will ich mir nicht nehmen lassen. Noch halten meine Neujahrsvorsätze.
Schwester Paula schaut mich emotionslos an.
„Frau Höbelmann geht heute heim!“ sagt sie.
Wer ist Frau Höbelmann? Warum geht sie heute heim? Warum auch nicht? Geht mich das etwas an?
„Ist Okay…“ Ich bemühe mich um einen professionell-neutralen Ton.
„Um acht Uhr wird sie abgeholt!“
Ja? Na und?
„Ist der Arztbrief schon fertig?“
Ach daher weht der Wind! Ich ahne Schlimmes…
„Keine Ahnung. Wer sollte den Brief geschrieben haben?“
„Frau Höbelmann liegt in Ihrem Bereich!“
Hab ich’s mir doch gedacht. Die Krankenakte liegt praktischerweise griffbereit auf dem Schreibtisch bereit; ich nehme sie die Hand und schlage sie auf.
Höbelmann, Alwina liegt auf Zimmer sechzehn. Damit befindet sie sich formell auf dem Territorium, für das ich verantwortlich bin.
Frau Höbelmann wurde am Tag vor Silvester aufgenommen, um halb fünf Uhr nachmittags, will sagen: kurz nachdem ich das Haus verlassen habe. Silvester war ich nicht da. Am Neujahrstag war keine Routine-Visite möglich, ich war mit Notfällen und den üblichen Stationskleinigkeiten mehr als ausgelastet. Dann kamein Sonntag, den ich zu Hause und weitgehend im Bett verbracht habe und heute…
Ich schaue auf die Uhr.
„Ich muss runter zur Besprechung!“
„Und was ist mit dem Brief?“ ruft Schwester Paula mir nach.
„Wenn ich den schreiben soll, dann verlässt die Patientin das Haus nicht, bevor ich sie gesehen habe!“
Die Antwort höre ich nicht mehr.