Die Erzählung „Hannah Baumanns letzter Morgen“ in sieben Teilen ist tragisch und alltäglich zugleich. Sie beleuchtet eines der großen Probleme unserer Gesellschaft in der Gegenwart und noch viel mehr in der Zukunft: Die späten und zu späten Entscheidungen im Alter und Hochalter.
Das Erwachen
Hannah Baumann war an ihrem letzten Morgen aufgewacht und hatte auf einen erträglichen Tag gehofft. Sie hatte abgewogen, was erträglich für sie bedeuten mochte und entschieden, ein erträglicher Tag sollte damit beginnen, dass es in diesem Augenblick, da sie die Augen öffnete, mindestens halb fünf am Morgen war.
Ein bescheidener Wunsch für den Start in einen erträglichen Tag, dennoch glaubte sie nicht einmal daran. Noch bevor sie sich zu ihrem Wecker drehte, wettete sie mit sich: Das tickende Folterinstrument, dieser barbarische Teufel kurzer Nächte würde ihr nicht mehr als drei Uhr anzeigen, behauptete sie still.
Drei Uhr wäre furchtbar. Sie konnte nicht mehr liegen, andererseits würde der Tag endlos werden, wenn sie um drei Uhr aufstand. Halb fünf wäre erträglich, halb sechs paradiesisch. Sie drehte also ihren Kopf zum Nachttisch und der verdammte Wecker sprach ein salomonisches Urteil. Es war eine Viertelstunde vor Vier, nicht niederschmetternd, aber auch keine Zeit, die Entzücken auslöste, dachte Hannah. Sie lag auf dem Rücken und versuchte zu entspannen. Vielleicht nickte sie noch einmal ein.
Was für ein frommer Wunsch. Hannah, Hannah wo lebst du? Wie lange ist es her, dass du nach dem ersten Aufwachen wieder eingeschlafen bist? Vielleicht nicke ich noch einmal ein, dass ich nicht lache. Wirst du nie klug?
Sie dachte an früher, als sie jünger, gesünder und vor allem beweglicher gewesen war. Damals hätte sie sich an einem Morgen wie diesem auf die linke Seite gedreht und ihre Wange wohlig ins Kissen gedrückt. Damals, als sie noch ihrer Arbeit nachging, freute sie sich sogar, wenn sie gelegentlich nachts um vier erwachte. Wie herrlich war das Gefühl, sich auf die Seite zu drehen und zwei weitere Stunden Schlaf vor sich zu haben. Es war wunderbar unter der Decke, die Knie angezogen, eine Hand unter der Wange, die andere zwischen den warmen Schenkeln.
Und heutzutage? Heutzutage schmerzte ihr der Rücken bei jeder Drehung. Ihre Hüfte jammerte ein Klagelied, wenn sie nur versuchte, sich auf die linke Seite zu drehen. Auf der rechten Seite liegen war ganz unmöglich, Schulterarthrose hatte ihr der Doktor schon vor fünfzehn Jahren erklärt. Jeder Druck auf das Gelenk schmerzte, als lägen Dutzende Reißzwecken zwischen dem ausgefransten Knorpel und den morschen Knochen, da war nichts zu machen.
Es war verrückt. Als Backfisch war sie auf Apfel- und Kirschbäume geklettert, hatte Bewegungen einer Balletttänzerin in luftiger Höhe vollführt, mit waghalsigen Zehenspitzenständen zwischen den Ästen, nur um an die äußersten Früchte zu gelangen. Und heutzutage? Heutzutage fürchtete sie sich vor winzigen Drehungen im Bett, sie, dieselbe Hannah, die gern oben auf den Leitersprossen herumgeturnt hatte, um unten dem Postboten oder dem jungen Bauern am Zaun zu imponieren. Die hatten einerseits um sie gefürchtet, andererseits versucht einen Blick unter ihren Rock zu erhaschen, um zu sehen, wo diese entzückenden schlanken Beine endeten.
Auf den Obstbäumen stand einst dieselbe Hannah, die sich nun vorm Aufstehen fürchtete, obgleich sie das Liegen im Bett quälte, sobald sie wach lag, dachte die alte Frau.
Lesen Sie wenigen Tagen weiter im 3. Teil dieser kleinen Serie!
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