Die Erzählung „Hannah Baumanns letzter Morgen“ in sieben Teilen ist tragisch und alltäglich zugleich. Sie beleuchtet eines der großen Probleme unserer Gesellschaft in der Gegenwart und noch viel mehr in der Zukunft: Die späten und zu späten Entscheidungen im Alter und Hochalter.
Gedanken
Während sie an die dunkle Decke starrte, kroch ihr der Schmerz den Rücken hinauf. Er war so einfallslos, der Schmerz, so ohne Phantasie, jeden Morgen derselbe Gang. Er begann unten im Kreuz, zog über die Lenden bis in den Nacken, und wenn sie lange genug lag, würde er sich in jedes Körperteil drängen, ob arthrotisch oder nicht. Außerdem wusste Hannah, wenn sie sich nicht augenblicklich erhob, würde ihr in fünf Minuten der Kopf dröhnen. So war es immer. Diese zusätzliche Plage würde dann den Vormittag über bleiben. Dabei waren fünf Minuten nicht viel Zeit, solange konnte es bei ihr bis in den halbwegs sicheren Stand dauern und erst dann ging es in die nächste Etappe: Den Morgenmantel vom Kleiderhaken heben und anziehen. Allein das rechte Ärmelloch war wegen ihrer steifen Schulter eine Prozedur. Rein in die Pantoffeln, was ohne rechtes Gefühl in den Zehen nicht leicht fiel. War sie nun hineingeschlüpft oder war sie nicht? Und wenn nicht, strauchelte sie womöglich bei den ersten Schritten.
Hannah hatte in den letzten Jahren erfahren müssen, wie umständlich ihr Körper geworden war und wie anfällig auf falsche Bewegungen. Fehler wiederholten sich bis sie begriff und Stürze wuchsen sich mit den Jahren zu Katastrophen aus.
Wenn die Füße endlich in den Schlappen steckten, wurde es Zeit – hurtig, hurtig! Hurtig, hurtig? Mir kommen die Tränen vor Lachen. Fuß um Fuß vorgesetzt, anders ging es doch gar nicht. Der Weg bis ins Bad war weit und unterwegs lauerten die Fußfallen. Keine Schwelle, keine Teppichkante durfte übersehen werden, sonst ging es kabauz, und das liebe Hannahchen hätte sich sonst was gebrochen, jawoll! Wäre ja nicht das erste Mal.
Nun, nun, nicht zu streng, mahnte sie sich, bis ins Bad bist du noch immer gekommen. Dort hieß es ohne weitere Umstände aufs Klo. War sie nämlich erst aus dem Bett aufgestanden, drückte die Blase und wollte sofort entleert werden. Sofort, eine Vokabel, die angesichts ihres Schließmuskels ihre Berechtigung haben musste, aber angesichts ihres Bewegungsapparates eine Unmöglichkeit barg.
Aber so weit war sie noch lange nicht. Noch lag sie im Bett und wollte nicht im voraus undankbar sein. Ihre Gedankenspiele halfen ihr lediglich, sich auf den morgendlichen Ablauf zu konzentrieren. Laut jammern würde Hannah Baumann nie, nicht vor ihrem Mann, nicht vor ihren Kindern, nicht vor ihren Freunden und Bekannten. Hannah war als bescheiden und duldsam bekannt, wie es in ihrem Inneren manchmal aussah, hätte sie allenfalls Karl erzählen wollen, aber der verstand sie nicht mehr.
Wenn sie den Auftakt bis zur Klobrille unbeschadet bewältigte, wollte sie mit Viertel vor Vier zufrieden sein. Also begann Hannah mit dem ersten Akt des Tages. Was blieb ihr übrig? Von allein kam man nicht auf die Toilette. Wäre schön, wenn man sich ins Bad zaubern könnte. Kann ich aber nicht, dachte sie, und wenn ich zaubern könnte, würde ich wie ein junges Kätzchen aus dem Bett springen und freudig ins Bad hüpfen. Ach, was! Wenn ich zaubern könnte, bräuchte ich nicht ins Bad, weil meine Knochen und meine Blase jung und gesund wären, und ich noch den halben Tag lang im Bett aushielte. Ein Blick auf die Uhr, und ich würde sagen: Was Viertel vor Vier, aber schnell auf die Seite gerollt und zauberhaft weitergeschlafen. So würde das gehen, fantasierte Hannah.
Lesen Sie wenigen Tagen weiter im 4. Teil dieser kleinen Serie!
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