Die Erzählung „Hannah Baumanns letzter Morgen“ in sieben Teilen ist tragisch und alltäglich zugleich. Sie beleuchtet eines der großen Probleme unserer Gesellschaft in der Gegenwart und noch viel mehr in der Zukunft: Die späten und zu späten Entscheidungen im Alter und Hochalter.
Raus aus dem Bett
In der nüchternen Gegenwart wälzte sie sich vorsichtig hin und her – der Schwung für eine halbe Rolle vom Rücken auf die linke Seite. Links musste sie raus aus dem Bett, rechts lag Karl. Nicht nur Arthrose und Osteoporose behinderten sie, so ehrlich musste sie schon sein.
Mit einem imaginären Blick in einen Spiegel an der Zimmerdecke sah sie den Akt ihres morgendlichen Aufstehens und ihr war klar, dass ihr selbst einen Gutteil Schuld an ihrer Lage zukam. Der Blick von der Zimmerdecke hinab erinnerte sie an ein Bild von früher, wenn im Keller geschlachtet wurde. In der Waschküche lag dann das Schlachtschwein in einem Trog, kurz zuvor hatte man es mit einem Bolzenschuss getötet. Die Männer hoben es in einen Brühtrog mit heißem Wasser, so lösten sich die Borsten und ließen sich besser abschaben. War die eine Seite fertig und die dran, auf der das Schwein gelegen hatte, wurde der Tierkörper hin und her gewuchtet, mit Anlauf und mit Hau! Hau! Hau-Ruck! auf die andere Seite gewälzt.
Ihr eigener Körper trug zwar keine Borsten, aber ihr Leib war ähnlich schwerfällig wie einst der des toten Tieres, und das lag nicht nur am Alter. Wie mochte sie wohl in einem Spiegel an der Zimmerdecke aussehen – ohne Nachthemd? Sie wüsste da ein Eigenschaftswort, ein wenig schmeichelhaftes.
Hau! Hau! Hau-Ruck! Mit dem letzten Schwung landete sie auf der linken Seite. Sofort protestierte ihre Hüfte, aber anders war es nicht zu machen. Die Zeiten, in denen sie sich einfach aus der Rückenlage aufrichten konnte, ohne darüber nachzudenken, aus wie viel einzelnen Schritte dieser Akt bestand, waren lange vorbei. Hannah stützte sich auf den linken Ellenbogen und stöhnte. Die linke Schulter war beinahe ebenso hinüber wie die rechte.
Vorsichtig schob sie ihr linkes Bein über den Bettrand und holte das rechte nach. Nicht zuviel, sonst hingen die Unterschenkel draußen und ihr Oberkörper lag noch platt im Bett. Diese Phase war die heikelste der gesamten morgendlichen Prozedur, es folgte nämlich der Übergang vom Ellenbogenstütz in den Handgelenkstütz. Heikel! Wie oft war sie an diesem Punkt gescheitert und zurück geplumpst. Dann lag sie nicht nur verdreht im Bett, sondern durchfuhr sie der stechende Schmerz einer jähen Bewegung. Bei ihr musste ein Schritt dem anderen Schritt folgen, wenn das komplizierte Manöver des morgendlichen Aufstehens akkurat ablaufen sollte, am besten wie in Zeitlupe.
An diesem Morgen gelang Hannah der entscheidende Schwung im ersten Versuch: Die Beine über die Bettkante, gleichzeitig den linken Arm vom Ellenbogenstütz in den Handgelenkstütz. Vielleicht wurde es tatsächlich ein erträglicher Tag. Wenn ihre Unterschenkel halb über der Bettkante hingen und der Oberkörper auf der linken Hand lastete, stach das zwar scheußlich im Handgelenk und in der Schulter, aber dann war eine der höchsten Hürden des Sich-aus-dem-Bett-arbeitens genommen.
Lesen Sie wenigen Tagen weiter im 5. Teil dieser kleinen Serie!
Edzard Dacher, in meinem Buch Spätvorstellung, hat bewusst versucht, sein Leben rechtzeitig auf das Altern einzurichten. Wie er dazu gekommen ist und ob ihm das immer gelungen ist, können Sie selbst lesen. Klicken Sie hier!