Die Erzählung „Hannah Baumanns letzter Morgen“ in sieben Teilen ist tragisch und alltäglich zugleich. Sie beleuchtet eines der großen Probleme unserer Gesellschaft in der Gegenwart und noch viel mehr in der Zukunft: Die späten und zu späten Entscheidungen im Alter und Hochalter.
Mühesame Fortschritte
In kleinen Sprüngen hüpfte ihre runzelige linke Hand näher an ihr Becken, Hannah bockte ihren Oberkörper auf in den geraden Sitz. Falls diese Phase glatt lief, rutschten gleichzeitig ihre Beine bis zu den Kniekehlen aus dem Bett. Höllisch Acht geben musste sie allerdings bei den letzten Hüpfern ihrer linken Hand, ja nicht zuviel Schwung geben, sonst bekam ihr Oberkörper Übergewicht. Schwankte sie unkontrolliert zur rechten Seite und ihre Füße setzten sich in der stumpfen Wolle des Teppichbodens fest, konnte es passieren, dass sie einerseits zum Fußende hin umkippte, andererseits aber ihre Beine den Gegenschwung Richtung Kopfende nicht mitmachten, weil ihre Fußsohlen vom Teppich gebremst wurden. Das war eine Katastrophe! Sie hatte das zwei, drei Mal erlebt und mit infernalischen Qualen bezahlt. Ihr Körper schien jedes Mal im Schmerz zu explodieren. Mindestens einmal hatte sie erwartet, dass ihre rechte Schulter zusammenkrachen und ihre Wirbelsäule in Höhe des Kreuzes auseinanderbrechen würde. Diese schreckliche Wendung galt es jeden Morgen zu vermeiden, deswegen stoppelte Hannah so vorsichtig mit der Handfläche über das Laken.
Mit einem letzten kleinen Schub tarierte sie sich in den aufrechten Sitz und war zufrieden. Sie spürte geringfügige Nachschwankungen, aber die schienen ungefährlich. Sie saß auf der Bettkante und pustete. Ein erster Schritt in den Tag war getan, es war der schwerste. Eigentlich müsste sie sich jetzt hinlegen, so erschöpft war sie, aber das war natürlich ein Scherz, denn damit würde alles von vorn beginnen.
Hannah sah an sich hinab, ihr Nachthemd war verrutscht und gab ihre Schenkel frei. Blasse, verschrumpelte, von fingerdicken Krampfadern verbeulte Haut, übersät mit Altersflecken, darunter eine wabbelige Speckschicht. Wie stolz war sie auf diese Beine gewesen. Wie oft hatte sie eitel ihr gertenschlankes Fahrgestell betrachtet, anfangs im Spiegel der Frisierkommode ihrer Mutter, wenn die nicht im Hause war und später im Klappspiegel des eigenen Schlafzimmers.
Aber Hannah wo denkst du hin? Das ist sechzig, gar siebzig Jahre her! Inzwischen waren ihre ehemals hübschen Beine verwelkt und ihr Umfang hatte sich verdoppelt. Das Übergewicht machte ihr Leben nicht einfacher, ganz bestimmt nicht. Ihr Bauch und ihre enormen Brüste sorgten dafür, dass sich neben den beiden Seitenlagen auch die Bauchlage nicht mehr zum Schlafen eignete. Auf ihren Brüsten und ihrem Bauch zu liegen, schnürte ihr die Luft ab. Und wie gern hatte sie früher so gelegen. Wie gern hatte Karl in jüngeren Jahren diese Lage genutzt, um ihr früh morgens den Rücken zu streicheln, nachher war seine Hand gen Süden gestreift über die straffen Hügel und dann…
Weg von diesen Gedanken, rief sich Hannah zur Raison, nicht weil sie ihr peinlich waren, sondern weil sie wusste, die Erinnerung an das vergangene Schöne würde sie am Ende traurig stimmen, denn der einst fesche Karl lag stumpfsinnig neben ihr. Wie sie selbst war er längst keine Schönheit mehr.
Hannah schnaufte auf der Bettkante sitzend und hinter ihr rührte sich ihr Mann.
Lesen Sie wenigen Tagen weiter im 6. Teil dieser kleinen Serie!
Edzard Dacher, in meinem Buch Spätvorstellung, hat bewusst versucht, sein Leben rechtzeitig auf das Altern einzurichten. Wie er dazu gekommen ist und ob ihm das immer gelungen ist, können Sie selbst lesen. Klicken Sie hier!