Die Erzählung „Hannah Baumanns letzter Morgen“ in sieben Teilen ist tragisch und alltäglich zugleich. Sie beleuchtet eines der großen Probleme unserer Gesellschaft in der Gegenwart und noch viel mehr in der Zukunft: Die späten und zu späten Entscheidungen im Alter und Hochalter.
Hannahs Mann rührt sich
„Was machst du? Wie spät ist es?“
„Ich stehe auf, es ist gleich vier!“
„Was willst du um diese Zeit. Sei um Gottes Willen leise.“
Sie wollte nichts um diese Zeit. Sie wollte gern weiterschlafen, aber sie konnte nicht mehr liegen und jetzt, wo sie saß, musste sie aufs Klo. Ihr Mann war einundneunzig und begünstigt mit einem regelmäßigen Acht-Stunden-Schlaf. Schlaf. Ach, was, Schlaf. Jede Nacht fiel er in eine achtstündige Bewusstlosigkeit, die ihm Kraft einzig fürs Schnarchen ließ. Plötzlich ärgerte es Hannah, dass er an ihr herummeckerte und sie zur Ruhe mahnte, während sie der Schmerz plagte. Sie wusste, dass sein Kopf nicht mehr klar war, trotzdem drehte sie sich zu ihm, um ihm heftig zu antworten. Sie war ärgerlich. Aber sie hatte sich vertan. Ihr Körper hatte mit der Drehbewegung zuviel Schwung aufgenommen. Sie schwankte. Sie hoffte. Aber sie kippte. Sie plumpste zurück auf ihre linke Seite und schrie auf. Ihre Beine standen wie zuvor vor dem Bett, die Fußsohlen fest auf dem stumpfen Teppich. Der Schmerz klopfte im Rücken. Hatte es auf Höhe der Schultern nicht geknackt?
Während sie jammerte, zog sich ihr Mann die Bettdecke über den Kopf. In Hannahs Wirbelsäule tobte der Schmerz – doch kein erträglicher Tag. Sie musste so schnell wie möglich wieder hoch, auch wenn sie am liebsten, so wie sie lag, sterben wollte. Man starb ja nicht an Schmerzen und so liegen zu bleiben, war nicht zu ertragen. Sie wiederholte die Prozedur bis in den Sitz. Es war viel schwerer als beim ersten Anlauf und außerdem war ihr Schlüpfer nass. Schweinerei! Sie hätte am liebsten laut losgeheult, aber neben ihr ging es, psst, psst.
Ich könnte ihm in die Rippen boxen, dachte sie, aber das verbot sich, weil sie das Desaster von eben nicht nochmal erleben wollte. Sie saß wieder, keuchte und wartete darauf, dass sich der Schmerz beruhigte. Als sie endlich stand, schlurfte sie zum Morgenmantel, zog ihn aber nicht über, hatte ja keinen Zweck, mit dem nassem Schlüpfer und dem nassem Nachthemd darüber. Also nahm sie den Mantel über den Arm und verließ das Schlafzimmer. Sie stocherte über den Flur, machte Licht im Bad und schloss die Tür hinter sich. Was jetzt folgte, erforderte einen geschlossenen Raum, auch wenn außer ihr nur Karl im Hause war.
Hannah überkreuzte die herabhängenden Arme und fasste mit beiden Händen das Nachthemd ihn Höhe ihrer Lenden. Langsam zog sie den Stoff hoch, in dem sie ihn in den Händen aufkräuselte. Als sie jeweils die Saumenden gefasst hatte, bückte sie sich soweit sie eben konnte nach vorn, um das Nachthemd über den Rumpf zu ziehen. Aber es ging nicht. Ihre Schultern machten nicht mit. Auf halber Strecke musste sie das Nachthemd loslassen und die Arme kurz ausstrecken. Gottlob rutschte der Stoff nicht nach unten, weil sie noch vorn übergebeugt stand.
Nach einer Pause versuchte sie mit ihrem besseren Arm, den Stoff des Nachthemdes im Nacken zu fassen. Sie ächzte, weil so gebückt ihren Lungen der Platz zum atmen fehlte, und weil ihre Schulter schmerzte, die solche Verdrehungen nicht mochte. Endlich erwischte sie den Stoff und zog ihn hoch, wieder in dem sie den Stoff in der Hand aufkrempelte, solange bis sie meinte, das Hemd über den Kopf ziehen zu können. Aber wieder kam sie nicht weiter. Sie steckte fest. Sie hatte die beiden Knöpfe vorn vergessen, außerdem klebte der nasse Stoff auf der Haut. Sie blieb wie sie war und versuchte sich vorn durch die Stofffalten zu den Knöpfen durchzuarbeiten. Sie weinte leise. Du bist zu blöd und zu steif, um dein Nachtkleid auszuziehen, schalt sie sich und schnäuzte ins Hemd, das so oder so in die Schmutzwäsche gehörte.
Lesen Sie wenigen Tagen weiter im 7. Teil dieser kleinen Serie!
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