Die Erzählung „Hannah Baumanns letzter Morgen“ in sieben Teilen ist tragisch und alltäglich zugleich. Sie beleuchtet eines der großen Probleme unserer Gesellschaft in der Gegenwart und noch viel mehr in der Zukunft: Die späten und zu späten Entscheidungen im Alter und Hochalter.
Der Sturz
Endlich lag das verdammte Nachthemd auf dem Heizkörper. Sie war so klug es nicht auf den Boden fallen zu lassen. Von dort hätte sie es kaum aufheben können. Als sie sich endlich aufgerichtet hatte, vermied sie einen Blick in den Spiegel. Der Morgen war hart genug. Der Schlüpfer war an der Reihe, aber das war nicht so schwer. In Anbetracht der Schwierigkeiten, die ihr An- und Auskleiden bereiteten, hatte sie vor einiger Zeit alle Bundgummis gelockert.
Sie schob also den Schlüpfer über ihre Beckenknochen und von dort rutschte er von allein auf die Fliesen und blieb dort liegen. Später wollte sie ihn mit dem Handstock in die Wäschetonne bugsieren. Jetzt war es Zeit für die Toilette. Sich auf die Brille zu setzen, war nicht mehr so schwierig wie noch vor Monaten, sie hatte endlich den Rat ihrer Tochter angenommen und sich einen Haltegriff an den Rand der Badewanne neben dem Toilettenbecken montieren lassen. Das Stück Metall war ein Segen, denn sie war nicht mehr in der Lage ihre Knie so dosiert zu beugen, dass ihre Hinterbacken ohne einen kurzen Sturz ins Leere die Klobrille erreichten. Zuletzt war sie regelrecht ins Nichts gefallen und bei jedem Toilettengang froh gewesen, wenn sie den Sitz auch wirklich getroffen hatte. Darüber hinaus hatte sich der Stauchungsschmerz, ausgelöst durch den freien Fall aus zwanzig Zentimetern Höhe, jedes mal bis in ihre Halswirbelsäule fortgepflanzt.
Viel war nicht mehr in ihrer Blase, trotzdem saß Hannah eine Weile. Sie ruhte sich aus. Bis hierhin war sie gekommen und erschöpft. Dabei hatte sie nicht mehr getan, als morgens aufzustehen, ins Bad zu gehen, ihr Nachthemd und ihren Schlüpfer auszuziehen und sich auf die Toilette zu setzen. Trotzdem war eine Pause nötig. Zu lange durfte sie allerdings nicht so sitzen bleiben, denn sonst schliefen ihr die Beine ein und sie würde den Grund unter ihren Füßen weniger spüren denn je.
Hannah dachte ans Sterben. Aber es starb sich nicht so leicht. Man konnte nicht auf der Toilette sitzen, den Tod herbeisehnen und der würde flugs heraneilen. Der schnelle Tod kam nur zu denen, die ihn nicht wollten.
Hannah Baumann wusste, mit ihrem Herzenswunsch wurde es langsam knapp. Sie hatte immer gehen wollen, bevor sie ein Pflegefall werden würde. Genau genommen bedurfte sie bereits der Pflege, sie hatte es sich nur noch nicht offiziell eingestanden und bislang jegliche Hilfe abgelehnt. Wenn sie nicht bald starb, würde sie sich waschen lassen müssen. Sie wusste auch, dass ihre Wohnung nicht mehr so sauber war wie früher, und sie selbst nicht mehr einwandfrei roch. Das Schlimmste daran war, dass es ihr viel mehr ausmachen müsste. Ebenso ging es ihr mit Karl. Früher hatte sie sich um ihn gesorgt bei dem Gedanken daran, sie könnte eher gehen als er, aber jetzt war ihr das einerlei geworden. Sie besaß nicht mehr die Kraft sich ausreichend um sich selbst zu kümmern, geschweige denn um ihren sieben Jahre älteren Ehemann, dessen Geist sich zunehmend im Gestrüpp ungeordneter Gedanken verirrte. Nur schlafen ließen ihn die senilen grauen Zellen wie ein Baby – beneidenswert.
Wie lange sie wohl noch leben musste? Ernsthaft hatte sie sich diese Frage zum ersten Mal zu ihrem Achtzigsten gestellt. Vier Jahre waren seit dem vergangen. Würde sie etwa noch vier Jahre leben müssen oder gar neunzig werden wie ihr Mann? Gott bewahre mich davor.
Gott bewahrte sie. Hannah Baumann erhob sich vom Toilettenbecken, wankte und suchte Halt an der gegenüberliegenden Wand des Bades. Sie sammelte sich einen Moment und nahm die drei, vier Schritte zum Waschbecken in Angriff. Ihren nassen Schlüpfer auf den Fliesen hatte sie vergessen. Der weiße Stoff hob sich auf dem weißen Stein nicht sonderlich ab. Hannah Baumann schob ihren Fuß zum zweiten Schritt vor, erwischte ihre nasse Schmutzwäsche, rutschte aus und stürzte. Über eine Stunde litt sie auf dem kalten Fliesenboden und hatte das Bewusstsein bereits verloren, als die Sanitäter sie auf die Trage hievten.
Später, im Krankenhaus, erwachte sie kurz, nur um festzustellen, dass ihr rechter Arm und ihr rechtes Bein sich nicht bewegen ließen, und dass es in ihrem Kopf merkwürdig still war. Dann verstand sie, schloss dankbar die Augen und ging.
Dies war der letzte Teil dieser kleinen Serie!
Edzard Dacher, in meinem Buch Spätvorstellung, hat bewusst versucht, sein Leben rechtzeitig auf das Altern einzurichten. Wie er dazu gekommen ist und ob ihm das immer gelungen ist, können Sie selbst lesen. Klicken Sie hier!