Indien produziert in großem Umfang preisgünstige Kopien von HIV-Medikamenten. Ein von der EU angestrebtes Abkommen könnte jetzt die Behandlung von Millionen Infizierten in ärmeren Ländern gefährden. Axel Schock erläutert die Hintergründe.
Schwarze Kartons türmen sich vor dem Brüsseler EU-Ratsgebäude zu einer Mauer. „Europa – Hände weg von unseren Medikamenten“ fordern die Aktivisten der Organisation „Ärzte ohne Grenzen“ auf ihren Transparenten. Mit der symbolischen Barriere wollen sie verdeutlichen, dass die Menschen in ärmeren Ländern bald von lebensnotwendigen Medikamenten abgeschnitten sein könnten.
Die Aktion im Dezember vergangenen Jahres in Brüssel ist Teil einer bereits länger laufenden Kampagne. Ihr Ziel: das Freihandelsabkommen zwischen der EU und Indien in der vorliegenden Form zu verhindern. Ein Abkommen, das Millionen Menschen mit HIV und Aids, Malaria und anderen Krankheiten den Zugang zu dringend benötigten Medikamenten verbauen würde.
Es geht dabei, wie so oft, um Geld. Genauer gesagt: um höchstmöglichen Profit. Die großen internationalen Pharmakonzerne versuchen, die Patente auf ihre Medikamente durch minimale Veränderungen immer wieder zu erneuern. Das indische Patentrecht erkennt allerdings nur wesentliche Veränderungen als Grund für neue Patente an. Damit können in Indien Präparate für die Behandlung von Krebs, Hepatitis, Malaria und auch HIV/Aids hergestellt werden, die wesentlich billiger als die Originalpräparate sind.
Es geht um höchstmöglichen Profit
Die Preisunterschiede sind enorm: Mit Generika kostet die Therapie eines HIV-Patienten pro Jahr nur rund 150 statt 10.000 Dollar. Derzeit erhalten rund fünf Millionen HIV-Infizierte in Afrika Therapien mit solchen Nachahmerprodukten. „Ärzte ohne Grenzen“ beispielsweise kauft 80 % seiner Aids-Medikamente bei indischen Generika-Herstellern, PEPFAR, das US-Programm zur weltweiten Bekämpfung von Aids, sogar 90 %.
Die Entwicklung Indiens zur „Apotheke der Armen“ wurde durch ein einmaliges Zusammenspiel unterschiedlicher Faktoren ermöglicht. Zum einen verfügt das Land über pharmazeutische Unternehmen, die zum Teil über 50 Jahre hinweg Erfahrungen in der Herstellung und Weiterverarbeitung von Wirkstoffen sammeln konnten. Zugleich hatte man das koloniale Patentrecht durch ein eigenes, recht liberales ersetzt. Die Folge: In Indien hat sich ein großer Industriezweig entwickelt, der baugleiche Kopien von Medikamenten herstellt, die in Indien nicht mehr durch ein Patent geschützt sind.
Bis zum Eintritt 2005 in die Welthandelsorganisation (WTO) waren in Indien lediglich (leicht zu umgehende) Herstellungsverfahren patentrechtlich geschützt, nicht jedoch die Wirkstoffe selbst. Nun muss sich Indien zwar den strengeren Patentregeln der WTO unterwerfen, HIV-Generika aus der Zeit vor 2005 können aber weiter produziert werden. Für Nachfolgetherapien, die beispielsweise weniger Nebenwirkungen aufweisen oder einfacher zu handhaben sind, gilt diese Ausnahmeregelung jedoch nicht.
Unter humanitären Gesichtspunkten betrachtet erscheint dieser indische Sonderweg als eine großartige und unverzichtbare Sache, bei der es keine Verlierer zu geben scheint. Denn die in der Tat nicht geringen Entwicklungskosten für die Wirkstoffe und Medikamente haben die Pharmakonzerne in der Regel bereits durch den Verkauf in den reichen Industriestaaten wieder eingespielt. Auch dürfen die günstigeren Präparate nicht nach Europa eingeführt werden, der Markt dort bleibt also geschützt.
Will die EU nur unliebsame Konkurrenz fernhalten?
Trotzdem machen die Pharmafirmen Druck. Über die Beweggründe kann man nur spekulieren. Ein ökonomisches Interesse am afrikanischen Markt können die Konzerne nicht haben. Die Bevölkerung dort könnte sich die teuren Medikamente nie leisten. Fachleute vermuten, dass man der indischen Generika-Industrie generell schaden will. Denn die könnte sich, nicht zuletzt dank der Hilfsgelder aus HIV- und Aids-Programmen, auch bei anderen Medikamenten bald zur ernsten Konkurrenz entwickeln. Auch Andreas Wulf von medico international e.V. sieht den Patentstreit vor allem als wirtschaftlichen Abwehrkampf, bei dem es um die Verteidigung eines Vorsprungs der Industrieländer geht.
In Einzelfällen konnten sich die Generika-Hersteller mit den Patentinhabern auf Lizenzzahlungen einigen. Bei einigen besonders dringend benötigen Medikamenten hat Indien auch schon günstige Lizenzen erzwungen. Die Konzerne aber denken nicht daran, einzulenken. Erste Klagen des Pharmaunternehmens Abbot Laboratories, der seine Patente für die HIV-Medikamente Lopinavir und Ritonavir verletzt sieht, wurden zwar kürzlich von indischen Gerichten abgeschmettert. Über das geplante Freihandelsabkommen zwischen der Europäischen Union und Indien wollen die Konzerne aber ihre Interessen dennoch durchsetzen. Insbesondere die deutsche Pharmalobby will mit strengeren Regelungen die alleinige Vermarktung ihrer – in vielen Fällen auch mit öffentlichen Forschungsgeldern ermöglichten – Patente sichern.
Wie sich Indien verhält, kann derzeit niemand sagen
So sollen die indischen Generika-Hersteller künftig eigene klinische Studien vorlegen, damit ihre Nachahmerprodukte für den Markt zugelassen werden. Und das, obwohl die Weltgesundheitsorganisation schon seit vielen Jahren empfiehlt, für solche Neuzulassungen bereits vorliegende Daten heranzuziehen. Müssten die indischen Hersteller tatsächlich alle Wirkstoffe noch einmal selbst auf Verträglichkeit und Tauglichkeit prüfen lassen, würden bis zur Zulassung im Schnitt weitere fünf bis zehn Jahre vergehen. Abgesehen davon, dass neuerliche klinische Testreihen mit Menschen ethisch kaum vertretbar sind, würde dies natürlich auch die Kosten der Generika in die Höhe treiben – und Millionen von HIV-Infizierten den Zugang zu bezahlbaren HIV-Medikamenten versperren.
Darunter zu leiden hätte auch Indien selbst: Rund 800 Millionen Inder verdienen weniger als zwei Dollar am Tag; Mangelernährung ist ein weitaus größeres Problem als in den Ländern südlich der Sahara. „Wenn in Indien Medikamentenpreise durchgesetzt werden, wie sich das die Pharmaindustrie vorstellt, um der kleinen indischen Oberschicht teure Diabetes- oder Krebsmedikamente verkaufen zu können, bleiben hunderte Millionen Inder auf der Strecke“, erklärt Oliver Moldenhauer von „Ärzte ohne Grenzen“.
Wie sich die indische Regierung letztlich verhalten wird, vermag derzeit niemand zu sagen. Das Land ist wirtschaftlich auf diese Verträge angewiesen, denn sie regeln die Beseitigung von Zollschranken, Zusatzabgaben und anderen Handelshindernissen. „Mit entscheidend wird sein, wie die öffentliche Debatte dazu läuft“, sagt Moldenhauer. „Wenn der Eindruck entsteht, dass es für die indische Regierung peinlich wird, dem Handelsabkommen in dieser Form zuzustimmen, weil es selbst in Europa Widerstand gibt, haben wir gute Karten.“
Das Überleben von Millionen Betroffenen hängt aber nicht zuletzt auch von der Haltung der Bundesregierung ab. Bislang stehen die zuständigen Minister Philip Rösler, Rainer Brüderle und Sabine Leutheusser-Schnarrenberger geschlossen hinter dem EU-Vertragsentwurf.
Weitere Informationen zur Kampagne „EU – Hände weg von unseren Medikamenten“ finden sich auf aidshilfe.de. Hintergrundinformationen bietet der Artikel „Meinungsmache und Wahrheit. Wie das EU-Indien-Freinhandelsabkommen den Zugang zu Medikamenten behindern wird” (PDF-Datei, in Englisch).