Im Labyrinth der Familie

„Das ganze Leben ist doch eine Frage der Deutung.“ In
seinem Roman „Ein unversöhnliches Herz“ erzählt Håkan Bravinger die tragische
Geschichte der Gebrüder Bjerre, die bedeutende Persönlichkeiten in der
schwedischen Geschichte der Psychologie darstellen. Bereits in der Kindheit
scheint das brüderliche Verhältnis durch Eifersucht getrübt. Der Ältere, Poul (1876 – 1965), leidet unter wechselhaften Launen, die
zwischen Selbstüberschätzung und Niedergeschlagenheit schwanken. Als
anerkannter Nervenarzt trifft er sich mit Freud auf Augenhöhe und führt die
Psychoanalyse in Schweden und Skandinavien ein. Bis 1917 gehörte Poul Bjerre
zum Herausgeberstab der Internationalen Zeitschrift für Ärztliche
Psychoanalyse.
Dass er Nietzsche verehrt, verwundert nicht. Beruflich
erfolgreich und mit dem kühlen Blick der Analyse distanziert er sich von seinem
jüngeren Bruder Andreas (1879 – 1925) – einem
brillanten Kriminologen, der unter Depressionen, Minderwertigkeitsgefühlen und
Schreibblockaden leidet. „Warum, Poul, kannst du nicht mit uns zusammen stehen,
warum müssen wir uns um dich scharen?“

1904 heiratet er Amelie Posse aus der schwedischen
intellektuellen Aristokratie. Wenig später wird die Beziehung zwischen Amelies
Mutter, Gunhild Posse, und seinem Bruder, Poul, ebenfalls öffentlich bekannt.
Die inzestuöse Verwandtschaft zwischen den beiden Brüdern verschärft den
Konflikt. Obwohl beide ihr Leben der Heilung der Verletzungen der Seele
widmeten, fanden sie keinen Weg zueinander. 1925 nahm sich Andreas das Leben.

Beide Brüder charakterisiert ihre intensive
Auseinandersetzung mit psychologischen Sachverhalten. Im Streben um fachliche
Anerkennung schließt sich Poul erst Freuds Auffassung an. 1913 distanziert er
sich von einigen psychoanalytischen Aspekten, denn er hält die Betonung auf die
menschliche Sexualität und das Unbewusste für überschätzt. Aber Bravinger
erzählt auch von seinen Beziehungen zu Lou Andreas Salome und seiner Frau
Gunhild. Und obwohl der Autor den persönlichen und beruflichen Werdegang Poul
Bjerres biografisch skizziert, liegt sein inhaltlicher Schwerpunkt nicht in der
Darstellung von Fachinformationen. Stattdessen zeichnet er ein leises Bild der
zunehmenden Erstarrung von Familienbeziehungen. Zu wenig Vergebung und zu viele
unausgesprochenen Wahrheiten führen zu Strukturen, die Familien einerseits
binden und andererseits fesseln. Menschen nicht zu vergeben, die man liebt,
erfordert viel Härte, die sich in Pouls immer wiederkehrenden durchdringenden,
kühlen Blick zeigt. Unausgesprochene Wahrheiten bedrohen beständig das
Vertrauen. Dieses Buch ist ein gutes Beispiel dafür, dass sich
Familienbeziehungen in einer Sphäre befinden, in der die sonst üblichen Regeln
des Urteils und des Handelns außer Kraft gesetzt sind. Watzlawick spricht von
einem „Labyrinth von Spannungen, Streitereien und Versöhnungen, deren Logik
widerspruchsvoll ist und deren Wertmaßstäbe und Kriterien oft so verborgen
sind, wie der gekrümmte Raum eines in sich geschlossenen Universums.“

Ein solches System skizziert Bravinger gekonnt als
Erzähler sowie in fiktiven Briefen, die den
persönlichen und beruflichen Werdegang der Brüder, ihre Ehen und amourösen
Verhältnisse sowie die zunehmend erstarrenden Familienbeziehungen beschreiben. Um
die Spuren eines Lebens festzuhalten, ist auch der Blick auf die damalige
Gesellschaft interessant. Leider erfährt der Leser recht wenig über die Welt,
in der Andreas und Poul Bjerre lebten. Die Briefe von Andreas an seinen Bruder
verraten dafür viel über das brüderliche Verhältnis und Pouls Beziehung zu
seiner Frau, sie enthalten aber auch einige Längen. Manche Ereignisse hat der
Autor zeitlich verschoben, um Platz in der Geschichte zu finden, manche Szenen
und Charaktere sind frei erfunden. Andreas formuliert es treffend in einem
seiner Briefe so: „Wenn man einen Menschen beschreibt, deutet man ihn. Jede
Biographie ist per se ein Roman.“


Bravinger, Håkan (2010) „Ein unversöhnliches Herz“,
München: Random House GmbH, btb Verlag. 480 Seiten.

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