Rosa von Praunheim beleuchtet in seinem Film „Die Jungs vom Bahnhof Zoo“ Schicksale in der Stricherszene Berlins. Vor und hinter der Kamera mit dabei: Sergiu Grimalschi. Als ehemaliger Streetworker hat der heutige DAH-Referent für Internationales die jungen Männer sehr persönlich kennen gelernt
Der Reporter der Berliner „Abendschau“ wählte klare Worte für diejenigen, die sich da auf dem Bahnhof Zoo herumtrieben: Er sah in ihnen „asoziale Elemente“ und „Schwerkriminelle“, die sich anderen Männern für Sex anboten.
Diesen Fernsehausschnitt von 1965 hat Rosa von Praunheim seinem neuen Dokumentarfilm „Die Jungs vom Bahnhof Zoo“ vorangestellt. Durch seinen harschen Ton und seine biedere Moralität wirkt der Kommentar heute beinahe unfreiwillig komisch.
Die Vorzeichen mögen sich im Laufe der Jahrzehnte verändert haben, doch die Situation der oft minderjährigen Sexarbeiter hat sich nicht verbessert. Anhand von fünf exemplarischen Lebensgeschichten entwickelt von Praunheim in seinem Dokumentarfilm einen differenzierten Blick auf die Szene. Deutlich wird dabei: Viele der Jungs und jungen Männer haben bereits in frühen Jahren Missbrauch erlitten.
“Stricher sind Menschen mit einer ungeheuerlichen Energie.”
Nicht von ungefähr stammen drei der Protagonisten des Films aus Rumänien: Ein Großteil der Stricher, die in Berlin auf der Straße, über entsprechende Webportale oder in Stricherkneipen sexuelle Dienste anbieten, kommen aus Osteuropa.
Sergiu Grimalschi hat 16 Jahre für das Berliner Projekt Subway gearbeitet, das „Jungs, die unterwegs sind und anschaffen“ unterstützt. Er hat sich dabei insbesondere um Stricher aus osteuropäischen Ländern gekümmert. Heute ist Grimalschi unter anderem Referent für Internationales bei der Deutschen AIDS-Hilfe. Er stand Rosa von Praunheim während der Dreharbeiten als Berater zur Seite und erzählt auch vor der Kamera von seinen Erfahrungen als Streetworker.
Es war sicherlich nicht leicht, Jungs zu finden, die vor der Kamera ihr Gesicht zeigen. Sind die fünf Protagonisten besonders mutig? Oder haben sie einfach nichts mehr zu verlieren?
Weder haben sie nichts zu verlieren, noch ist ihnen alles egal. Es sind diejenigen, die schon alles haben, was sie sich gewünscht haben. Das mag in unseren Augen wenig erscheinen, aber für sie ist es viel. Sie haben sich – jeder auf seine Weise – etabliert, konnten diese Phase ihres Lebens hinter sich lassen und haben deshalb genug Distanz, um darüber reden zu können.
Wir sehen also jene, die mit ihrem Leben auf der Straße zu Rande kamen und Perspektiven ergreifen konnten. Was geschieht mit den anderen?
Ich bin Optimist, allerdings auch, weil ich über die vielen Jahre hinweg immer wieder positive Erfahrungen gemacht habe. Ich glaube, dass es sehr viel mehr Erfolgsgeschichten und gelungene Ausstiege gibt, als uns diese rührenden Geschichten glauben lassen. Unsere Klienten sind robust. Stricher sind – mit Ausnahmen natürlich – Menschen mit einer ungeheuerlichen Energie. Manche haben allerdings auch Märchenvorstellungen im Kopf. Die werden zwangsläufig enttäuscht und können zu Verbitterung führen. Das liegt aber im Charakter des jeweiligen Menschen.
Praunheim begleitet den Roma-Jungen Ionel in sein Heimatdorf in Rumänien. Fast alle jungen Männer dort gehen in Berlin anschaffen, aber niemand scheint offen darüber zu sprechen. Ist das tatsächlich so?
Natürlich wissen alle Bescheid, weil man so etwas auf lange Sicht nicht verheimlichen kann. Ich habe in meinen 16 Berufsjahren als Streetworker auch erlebt, dass erst die Väter und später ihre Söhne anschaffen gegangen sind. Das Verschweigen ist ein soziales Phänomen. In diesen Ländern herrscht eine orientalisch geprägte Grundhaltung: Dinge, die es nicht geben darf, werden einfach nicht gesehen. Es bleibt ein Hintertürchen offen, um das Gesicht wahren zu können. Das Geld muss in Berlin ja nicht automatisch durch Prostitution verdient worden sein – man kann ja auch Straßenmusik machen oder Autoscheiben putzen. Das nimmt man alles nicht so genau unter die Lupe.
Wie ist denn das Ansehen derjenigen, die nach Berlin gehen?
Anders als für uns mittelschichtorientierte Mitteleuropäer ist in diesen Ländern bereits der Verkauf von Obdachlosenzeitungen oder Betteln am Ku’damm ein Aufstieg. Das wird verständlich, wenn man sich die wirtschaftlichen Verhältnisse in den Herkunftsländern anschaut.
“Manche Jungs hatten ein richtiges Glückserlebnis, nur weil sie eine Woche beim Freier wohnen und duschen konnten.”
Was heißt das konkret?
Ich habe mit Menschen gesprochen, die ein richtiges Glückserlebnis hatten, nur weil sie eine Woche bei einem Freier wohnen, täglich warm duschen und Fleisch essen konnten. Das Verschweigen ist insofern eine Doppelstrategie. Die Jungs, die Anschaffen gehen, tragen auch zum wirtschaftlichen Wohlstand der Familie in der Heimat bei. Das will man natürlich nicht unterbinden.
Wie schwierig ist es angesichts der Tabuisierung der Sexarbeit auch von den Strichern selbst, sie mit Präventionsbotschaften zu erreichen?
Ich bin die ganzen Jahre hindurch zwar für HIV-Primärprävention bezahlt worden, faktisch habe ich aber sehr viel Sekundärprävention machen müssen, weil so viele der Stricher bereits infiziert waren. Und HIV ist dabei nur ein Problem: Diese Jungs haben alle nur erdenklichen Krankheiten. Das Leben auf dem Strich und oft in noch größerem Maße das Leben davor haben sie psychisch wie physisch sehr verwundbar gemacht.
Ist es einfach mit ihnen über den Schutz ihrer Gesundheit ins Gespräch zu kommen?
Nein, ganz und gar nicht. Wir haben es hier schließlich mit Verleugnen, Doppelmoral und Doppelleben zu tun, wobei ich diese Begriffe hier ohne negative Bedeutung verwende. Uns ist es aber gelungen, die Gruppendynamik zu nutzen, die speziell bei Roma-Jungs vorherrscht. In jeder Gruppe gibt es einen Meinungsführer, der bestimmt, was gemacht und über was gesprochen wird, was gut und was schlecht ist. Über eine lange Zeit war ich für meine Jungs der Meinungsführer. Kraft meiner Autorität durch viele „gute Taten“ konnte ich sie dazu bewegen, mir zuzuhören.
Welche Folgen hat die Sexarbeit für die überwiegend heterosexuellen Jungs? Entwickeln sich psychische Langzeitschäden, Hass und Homophobie?
Das kommt vor, ist aber nicht die Regel. Ich vermute, dass Hassgefühle nur jene entwickeln, die nicht so tief in die Szene eingetaucht sind und sich schnell wieder zurückgezogen haben, vielleicht auch aus Ekel. So schwer diese Arbeit ist und so unattraktiv die Freier oftmals sind, bei vielen bleiben nicht nur negative Gefühle und Erinnerungen.
Wie äußert sich das?
Gerade bei Migranten habe ich oft erlebt, dass sie mit geradezu nostalgischen Gefühlen dahin zurückkehren, wo sie als Jungs anschaffen waren. Einige, die in den 90ern mit 15, 16 Jahren hier unterwegs waren, habe ich wieder getroffen, als sie Mitte 20 waren. Sie sagten Sätze wie: „Kannst du dich nicht erinnern, wie wir hier am Bahnhof Zoo gestanden haben? Wie viel Geld wir hier gemacht haben!“ Bei manchen ist das Finanzielle vielleicht der entscheidende Grund, warum die Erfahrungen keinen bitteren Nachgeschmack hinterlassen haben.
Erstaunlich.
Vom Anschaffen alleine ist nach meiner Wahrnehmung keiner paranoid geworden. Da kamen Begleiterscheinungen der Prostitution hinzu: Gewalt, Missbrauch, Drogengebrauch, Alkoholismus. Ich will die Arbeit auf der Straße keineswegs rosa malen. Es ist und bleibt ein hartes Leben!
Ihren Job bei dem Stricher-Projekt Subway haben Sie inzwischen aufgegeben.
Ich habe den Film als eine Art Abschluss-Supervision benutzt, um mich von dieser Arbeit zu trennen. Ich arbeite nun für die Berliner AIDS-Hilfe in der Beratung HIV-positiver Migranten sowie für die Deutsche AIDS-Hilfe, wo ich für die internationale Zusammenarbeit zuständig bin, insbesondere mit Osteuropa.
“Ich wünsche mir mehr Wertschätzung für diese Menschen, die oft wie der letzte Dreck behandelt werden.”
Warum haben Sie nach 16 Jahren aufgehört? Konnten Sie den Strich einfach nicht mehr sehen?
Im Gegenteil. Ich habe sogar ein bisschen Sehnsucht nach bestimmten Settings. Diese verrauchten Kneipen, diese Unterwelt aus Transen, Drogen, Dealern und Zuhältern – das ist eine Kultur, die nicht nur pittoresk ist, sie hat mich ein Stück weit auch angezogen. Ich habe mich dort als Insider zurechtgefunden konnte mit Protagonisten dieser Szene arbeiten. Das vermisse ich jetzt ein bisschen. Bei meinen neuen Aufgaben ist alles etwas bürgerlicher: Die Klienten sprechen mich mit Sie an. Daran musste ich mich gewöhnen. Der Wechsel war allerdings ein Wunsch von mir. Ich wollte nach 16 Jahren einfach eine neue Herausforderung in meinem Leben.
Was erhoffen Sie sich von Praunheims Film? Was kann er bewegen?
Er sollte Aufmerksamkeit für das Thema schaffen. Damit meine ich nicht nur die Prostitution, sondern auch die Situation von Migranten in ihren verschiedenen schwierigen Lebenslagen. Sie kommen aus für uns kaum vorstellbarer Armut, überwinden unter oft lebensgefährlichen Umständen Grenzen, um schließlich hier bei uns unter widrigsten Bedingungen zu leben und Arbeiten zu verrichten, für die sie verachtet werden. Das alles nehmen sie auf sich, um in ihrem Leben ein bisschen weiterzukommen. Ich wünsche mir mehr Wertschätzung und Respekt für diese Menschen, die hierzulande oft wie der letzte Dreck behandelt werden. Gerade auch von jenen, die sie am meisten in Anspruch nehmen, den Freiern.
Interview: Axel Schock
„Die Jungs vom Bahnhof Zoo“. Regie Rosa von Praunheim. D 2011, 84 min.
Kinostart am 24.2. in Berlin, ab 10.3. u.a. in Frankfurt/Main, Freiburg, Marburg, und Stuttgart, ab 16.3. u.a. in Essen und Köln, ab 24.3. u.a. in Braunschweig, Hannover und Jena.
Genaue Termine mit Angaben der Kinos sowie lokale Premieren in Anwesenheit von Rosa von Praunheim unter www.basisfilm.de/ und www.rosavonpraunheim.de.