Haft als Chance?

Infektionskrankheiten kommen in Gefängnissen häufiger vor als "draußen". Foto: Michael Werner Nickel, pixelio.de

Infektionskrankheiten kommen in Gefängnissen häufiger vor als "draußen". Foto: Michael Werner Nickel, pixelio.de

Gefangene haben ein hohes HIV- und Hepatitis-Risiko. Die gesundheitliche Situation in Haft ist allerdings von Land zu Land unterschiedlich – und manchmal sogar besser als in Freiheit. Peter Rehberg fasst eine amerikanische Auswertung von Studien aus den letzten 20 Jahren zusammen

Weltweit leben zehn Millionen Menschen in Gefängnissen, darunter eine halbe Million Frauen. Allein in den USA gibt es 2,3 Millionen Inhaftierte – sie haben damit weltweit den höchsten Anteil von Häftlingen an der Bevölkerung. In absoluten Zahlen sind nur in China mehr Menschen eingesperrt.

Offener Umgang mit HIV immer noch schwierig

Viele Infektionskrankheiten, so etwa Hepatitis und Tuberkulose, kommen bei Gefangenen häufiger vor als in der übrigen Bevölkerung. Dabei spielen auch Ko-Infektionen eine Rolle: Erhöhte Tuberkulose-Infektionsraten sind zum Beispiel bei HIV-Positiven festzustellen. Epidemiologische Studien haben gezeigt, dass die HIV-Prävalenz im Gefängnis in den meisten Ländern über dem Bevölkerungsdurchschnitt liegt (und ebenso, dass die Wahrscheinlichkeit, an den Folgen von HIV zu sterben, nach der Entlassung aus der Haft besonders hoch ist).

Erste Berichte über HIV im Gefängnis gab es schon vor 25 Jahren. Seitdem ist HIV das am besten erforschte Gesundheitsthema bei Häftlingen überhaupt. Trotzdem sind genaue Daten nicht immer leicht zu bekommen. Denn ein offener Umgang mit HIV im Strafvollzug ist nach wie vor schwierig, weil Positive im Gefängnis mit stärkerer Diskriminierung von Mithäftlingen rechnen müssen – erst recht, wenn zum Beispiel ein Outing als Schwuler hinzukommt.

Erhebliche Unterschiede bei den HIV-Raten

Bei den Ländern mit geringem und mittlerem Durchschnittseinkommen lagen nur für die Hälfte Daten zu HIV in Haft vor (75 von 152). In 20 dieser Länder sind ca. 10 % der Inhaftierten mit HIV infiziert; die Rate ist damit deutlich höher als in Ländern mit höherem Einkommen. Zum Vergleich: In Deutschland ist knapp ein Prozent der Häftlinge HIV-positiv, bei 80.000 Häftlingen sind das insgesamt etwa 800 Infizierte. Allerdings sind auch die Zahlen der 75 Länder mit mittlerem und niedrigem Einkommen sehr unterschiedlich – einige berichteten auch gar keine HIV-Fälle.

Die meisten Daten stammen aus Ländern mit höherem Einkommen. Aber auch bei diesen Ländern schwankt die HIV-Prävalenz bei Inhaftierten zum Teil beträchtlich. So gibt es mit 5,7 % relative hohe Angaben für Italien, während Dänemark tatsächlich null Prozent meldet.

Angaben sind nicht immer verlässlich

Sowohl für Länder mit niedrigem und mittlerem Einkommen als auch für Länder mit hohem Einkommen basieren die Angaben nicht immer auf verlässlichen Untersuchungen. Zum Teil handelt es sich um Schätzungen, die in der Regel zu niedrig ausfallen dürften. Zum Beispiel liegen für die Hälfte der US-Bundesstaaten nur vage Annahmen und keine genauen Berichte vor.

Trotzdem gibt es gerade in den USA Hinweise, dass die HIV-Prävalenz bei Häftlingen seit Beginn der Epidemie abgenommen hat. 1991 begann die US-Regierung, Daten über HIV-infizierte Inhaftierte zu sammeln. 1992 lag die Prävalenz noch bei 2,5 %, 2007 hingegen nur noch bei 1,5 %. Eine andere, sowohl bei Neuinhaftierten als auch Entlassenen durchgeführte Analyse kommt zu einer ähnlichen Schätzung: Die HIV-Rate bei Inhaftierten soll zwischen 1997 und 2006 um knapp 30 % gesunken sein. In Deutschland seien die im internationalen Vergleich relativ niedrigen Zahlen konstant, sagt Bärbel Knorr, verantwortlich für den Bereich Strafvollzug bei der DAH.

Anteil der Drogengebraucher oft über 20 Prozent

Einer der Hauptgründe, weshalb Infektionskrankheiten bei Häftlingen häufiger vorkommen, ist der intravenöse Drogengebrauch. Das zeigen vor allem Studien aus Australien, Litauen, Russland und Schottland. Weltweit ist in vielen Gefängnissen der Anteil der User höher als 20 %. Der Gebrauch von nichtsterilen Spritzen scheint bei der HIV-Übertragung in Haft entscheidend zu sein. Ein weiterer Risikofaktor ist ungeschützter Sex. Bei einer Umfrage unter 1.600 Häftlingen in Quebec beispielsweise gaben 45 % der Frauen und 26  % der Männer an, dass sie vor ihrer Inhaftierung Sex mit einer Drogen gebrauchenden Person hatten, in den meisten Fällen ungeschützt.

Substitutionsprogramme führen zu einer Reduzierung des intravenösen Drogengebrauchs, und auch das Bereitstellen steriler Spritzbestecke trägt dazu bei, dass sich weniger Häftlinge infizieren. Das bestätigt auch Bärbel Knorr, die als erfolgreiches Beispiel den Spritzentauschautomaten in der Justizvollzugsanstalt für Frauen in Berlin-Lichtenberg nennt.

Von Infektionen besonders betroffen: Frauen, Ältere und Jugendliche

Bei weiblichen Häftlingen ist die HIV-Infektionsrate weltweit höher als bei männlichen. Das gilt insbesondere für Länder mit geringem und mittlerem Einkommen. Frauen, über 55-Jährige und Jugendliche in Haft sind von Infektionskrankheiten insgesamt stärker betroffen als andere Gefangene. Vor allem jüngere Gefangene neigen zu risikoreichem Sex und sind von daher anfälliger für sexuell übertragbare Infektionen.

Eine Studie bei männlichen Insassen im US-amerikanischen Gefängnissystem ergab, dass HIV vorwiegend innerhalb sexueller Netzwerke übertragen wird. Hier würde eine anonyme, kostenlose Vergabe von Kondomen und Gleitmitteln helfen. Neben Drogengebrauch und ungeschütztem Sex gilt auch das Tätowieren mit nichtsterilen Instrumenten, die bei mehreren Gefangenen nacheinander verwendet werden, als ein Risikofaktor in Haftanstalten. „Tätowieren und Piercen sind per Hausordnung in deutschen Gefängnissen zwar verboten, werden aber trotzdem praktiziert. Man sollte sie legalisieren und professionelle Tätowierer in die Haftanstalten lassen“, fordert Bärbel Knorr.

Medizinische Versorgung in Haft oft besser als außerhalb

Die Zusammenarbeit zwischen dem öffentlichen und dem Gefängnis-Gesundheitssystem ist in vielen Ländern schlecht. Das erschwert die Behandlung von HIV-positiven Häftlingen. Das ist umso bedauerlicher, als sich gerade auch in Gefängnissen die Möglichkeit bietet, Jugendliche und Menschen aus gesellschaftlichen Randgruppen medizinisch zu betreuen und sie aufzuklären – so jedenfalls sehen es Seena Fazel und Jacques Baillargeon, die Autoren der Literaturauswertung, die Mitte März in der Fachzeitschrift The Lancet veröffentlicht wurde. Eine so professionelle Behandlung wie im Gefängnis würden die Betroffenen in Freiheit nicht so ohne Weiteres erhalten. Fazel und Baillargeon plädieren außerdem dafür, die Gesundheitsfürsorge für Häftlinge nicht allein dem Gefängnissystem zu überlassen. Denn dieses setze Sicherheitsaspekte an erste Stelle und könne daher Fragen zur Gesundheit der Gefangenen nicht genügend berücksichtigen.

Dies bestätigt Sergiu Grimalschi vom DAH-Bereich „Internationales“ für Länder wie Russland, Lettland oder die Ukraine. „Dort ist der Zugang zu antiretroviraler Behandlung und Substitution in den Gefängnissen besser als außerhalb. Das liegt daran, dass die medizinische Versorgung HIV-positiver Gefangener hier vom Globalen Fonds zur Bekämpfung von Aids, Tuberkulose und Malaria finanziert und von den Justizministerien organisiert wird.“

So paradox es auch klingen mag: für die Gesundheit kann Haft auch eine Chance sein.

Quelle

Seena Fazel, Jacques Baillargeon: The health of prisoners. In: Lancet 2011; 377: 956–65 (vorab online veröffentlicht am 19. November 2010)

DOI:10.1016/S0140-6736(10)61053-7

Der Artikel kann nur von registrierten Nutzern abgerufen werden. Eine (sehr knappe) Zusammenfassung steht unter http://www.thelancet.com/journals/lancet/article/PIIS0140-6736%2810%2961053-7/abstract zur Verfügung.

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