Der Sonntags-Blinddarm Teil 1
Frau G. ist das, was man früher eine Magd nannte. Sie ist fast siebzig und arbeitet noch immer mehr als acht Stunden am Tag. Obwohl ich seit 30 Jahren ihr Hausarzt bin, habe ich sie im Laufe der Jahre selten gesehen. Kennengelernt haben wir uns am Anfang meiner Praxiszeit etwas intensiver, wegen einer Gallenblasenentzündung, inklusive Operation und Nachbehandlung. Frau G. ist ein netter, einfacher Mensch, zwar nicht ganz gesund, aber für Arztgänge hat sie nichts übrig, schon gar nicht im anbrechenden Frühling.
Es ist März, Sonntag Abend. Ich habe hausärztlichen Notdienst. Die Tagesschau ist fast zu Ende, da klingelt das Telefon zum x-ten Mal an diesem ereignisreichen Sonntag.
Frau G. ist am Apparat. Sie hat Bauchschmerzen, nicht schlimm, aber es geht schon den ganzen Tag, mal mehr, mal weniger. Sie wollte nur mal vor der Nacht anrufen, was sie machen soll und entschuldigt sich vielmals dafür.
Ich sage es ganz ehrlich: So ein Fall ist normalerweise etwas zum Abwimmeln. Wenn die Beschwerden schon vom Patienten als nicht so schlimm geschildert werden und bereits den Tag über kommen und gehen, hat der Fall doch wohl Zeit bis zum nächsten Morgen, besonders wenn es gerade Sonntag Abend ist und die eigenen Füße angeschwollen endlich mal für einen Augenblick auf der Fußbank abliegen. Frau S. zum Beispiel, die gern wöchentlich in der Praxis erscheint, geschminkt, perfekt gekleidet und mit hohem Anspruch an ihr Wohlbefinden und ihren Hausarzt, hätte von mir ein paar telefonische Tipps erhalten und einen morgendlichen Ultraschalltermin. Aller Wahrscheinlichkeit nach wäre das in ihrem Fall weitaus mehr gewesen als nötig.
Aber Frau G.? Mindestens ein Jahr habe ich nichts von ihr gehört. Sie ruft an? An einem Sonntag. Abends? Während die Tagesschau noch läuft? Ich kann mir ihren Mann bildlich vorstellen, wie er neben ihr sitzt und fragt, ob sie nicht Ruhe geben kann bis nach den Nachrichten. Trotzdem ist sie aufgestanden und hat den Notdienst angerufen, wobei Telefonieren nicht ihre Sache ist und erst recht nicht, um fremde Leute zu stören und deren Hilfe in Anspruch zu nehmen. Im Zweifel hat sie nicht einmal gewusst, dass ihr Hausarzt am Apparat sein wird. Sie hat einfach den Notdienst angerufen, so stark waren immerhin ihre Schmerzen.
All das denke ich, während ich mit ihr telefoniere und ein paar Fragen zu ihren Beschwerden stelle. Frau G. kann im Prinzip antworten, was sie will, meine Entscheidung, mir diesen Bauch vor der Nacht noch ansehen zu wollen, ist gefallen. Ich sage ihr, dass ich komme und bitte sie, von ihrem Mann ein helles Handtuch an die richtige Hofeinfahrt hängen zu lassen. Auf dem verschachtelten Hof von Bauer M., im Dorf D. ohne Hausnummern, wird das Navi die Kate der Eheleute G. nicht kennen. Zumal ich mich dunkel erinnere, dass nicht einmal ein befestigter Weg dort hinführt.
Jetzt will Frau G. mich abwimmeln. So sei ihr Anruf nicht gemeint, aber dann durchfährt sie ein neuerlicher Schmerz und sie gibt nach.
Lieber Leser, glauben Sie nicht, wir sind in der Fernsehserie „Der Landarzt“ nur anders. Der Fall ist zwar unkenntlich gemacht aber original und Sie werden schon noch merken, dass die Realität nüchtern wird – sehr nüchtern.
Lesen Sie im nächsten Teil, wie es mit der Patientin G. weitergeht.
Liebe Grüße, Ihr Hausarzt Dr. Kunze
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