Der Sonntags-Blinddarm Teil 2
Als ich die kleine Wohnstube der G.s betrete, ist sogar der Herr des Hauses beunruhigt und läuft aufgeregt hin und her, obwohl er sonst immer die Ruhe selbst ist. Ich beschäftige ihn mit der Suche nach der Versichertenkarte und einem Zehn-Euro-Schein, die Quartalsgebühr der Krankenkassen.
Frau G. kann gleich auf dem Sofa liegen bleiben und muss ihren Bauch frei machen. Ihre rechte Seite ist äußerst druckempfindlich, vor allem unterhalb des Bauchnabels. Ich setze mein Stethoskop auf die kalt-schwitzige Haut. Darmgeräusche sind keine zu hören. Eine Gallenblase hat die Kranke nicht mehr. Die Narbe von der althergebrachten Operationstechnik herrührend ist unübersehbar. Also, was bleibt schon übrig an Verdachtsdiagnosen? Vor allem wenn die gute Frau schon beim leichten Beklopfen der rechten Bauchseite mit schmerzverzerrtem Gesicht zusammenzuckt. Ein paar seltenere Erkrankungen könnten einem einfallen, Krebs eher nicht, denn die Frau sieht zwar angegriffen aus, aber nicht ausgezehrt – also der Blinddarm! Allenfalls Sigmadivertikulitis in etwas ungewöhnlicher Lage wäre noch in Betracht zu ziehen.
„Haben Sie Ihren Blinddarm noch, Frau G.?“
„Ja, sicher, den habe ich noch.“
Sie antwortet und als sie versteht, was das bedeutet, ist sie erschrocken und fragt:
„Muss ich jetzt ins Krankenhaus?“
Ja, sie muss. Egal, wie die Diagnose lautet, auf diesem Bauch ruht kein Segen, wie es in meiner chirurgischen Zeit immer hieß.
Ich rufe den Krankenwagen und da kaum Zweifel bleiben, schreibe ich keine Verdachtsdiagnose auf den Einweisungsschein, sondern notiere definitiv:
„Appendicitis acuta mit Begleitperitonitis bei Verdacht auf Perforation“
Ich bin also fest davon überzeugt, dass dieser Blinddarm bereits geplatzt ist, wie es im Volksmund heißt und will die entsprechenden Sinne im Krankenhaus schärfen. Übrigens ist das, was ich da ermittle, bei diesen Begleitumständen und dem Untersuchungsbefund, keine große Kunst. Den ganzen Tag über, auf genaue Nachfrage auch schon am Tag zuvor, hat sich Frau G. immer wieder mit Bauchschmerzen herumgeplagt. Vor allem beim Bücken war es schlimm und auf dem Bauch liegen kann sie überhaupt nicht, nicht einmal auf der rechten Seite. Am besten liegt sie auf dem Rücken, aber nicht so flach. Typische Zeichen von Bauchfellentzündung und Platzmangel im Bauch wegen entzündlicher Schwellungen. Weil die Patientin es gewöhnt ist, alles zu bagatellisieren, was mit ihr persönlich zusammenhängt, hält sie aus – bis zum Abend. Irgendwann zwischen Lindenstraße und Tagesschau, ist der Wurmfortsatz des Dickdarms möglicherweise so vereitert, dass seine dünnen Wände nicht mehr halten und selbst eine Frau wie Frau G. kann jetzt keine Rücksicht mehr nehmen – auf andere und auf den Sonntag.
Weil der Krankenwagen noch eine Weile braucht, frage ich nach Bauchschmerzen in der letzten Zeit, also in den letzten Wochen.
„Ja, schon, manchmal. Aber die waren nicht so doll, Herr Doktor.“
Was das bei Frau G. heißt, kann der Leser inzwischen selbst einschätzen. Bei dieser Anamnese ist auch die Möglichkeit einzukalkulieren, dass die Blinddarmentzündung bereits eine Weile auf- und abklingt, vielleicht mit Entstehung einer Eiteransammlung im Bauchraum – dem sogenannten perityphlitischen Abszess. Wenn der Eiter beginnt, sich im Bauchraum zu verteilen, wird’s richtig ernst.
Noch ist der Kreislauf von Frau G. stabil. Der Krankenwagen kommt und die Patientin wird in weniger als einer halben Stunde im Krankenhaus sein. Zehn Tage später höre ich wieder von ihr.
Lesen Sie im nächsten Teil, wie es mit der Patientin G. weitergeht.
Liebe Grüße, Ihr Hausarzt Dr. Kunze
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