Von der Erziehung zur Beziehung

Viele
Mütter und Väter plagen Selbstzweifel. Sind sie gute Eltern? Und was sind
eigentlich gute Eltern? In Wohnzimmern und auf Kinderspielplätzen fehlt es an
Orientierung. Eine Flut von Erziehungsratgebern ist Ausdruck der großen
Verunsicherung, die sich unter den Eltern breit gemacht hat. Die stark autoritär
geprägte Erziehung der 50iger und 60iger Jahre brachte den Kindern Gehorsam
durch Züchtigung bei. In den 70iger Jahren wandelte sich die durch Herrschaft
bestimmte Erziehung in einen partnerschaftlichen Umgang mit dem Kind. Die antiautoritäre Erziehung trat ihren
Siegeszug an und ersetzte Schläge und Hausarrest durch demokratische
Diskussionen. Heute versuchen viele Eltern den Balance-Akt zwischen
Freiheiten lassen und Grenzen setzen zu meistern. Die nächste Generation soll
selbstbewusst und mit Durchsetzungsvermögen ihre persönlichen Fähigkeiten
entwickeln können. Konservative Werte wie Fleiß, Ordnung und Bescheidenheit
treten stärker in den Hintergrund. Mit den Zielen ändern sich auch die
Methoden. Die autoritäre Erziehung weicht der partnerschaftlichen Beziehung.
Aber: wann kann ich diskutieren und wann muss ich konsequent bleiben? Wie viel
Freiheit kann ich meinem Kind lassen, ohne es zu überfordern?

Der bekannte dänische Familientherapeut Jesper Juul bündelt
nun in seinem neuen Buch 18 Coachingfälle, die er zuvor schon in der
Zeitschrift Wir Eltern veröffentlicht hat. In Form von Protokollen lässt er den Leser an
seinen Gesprächen mit Familien teilhaben: Wir begegnen unter anderem Patchworkfamilien,
erschöpften Müttern und ungeduldigen Vätern, kleinen Prinzessinnen und Kindern,
die nicht ins Bett wollen. Der fragliche Nachwuchs ist im Kleinkindalter,
besucht den Kindergarten oder die Grundschule.

"Sie
dramatisiert alles immerzu, will die ganze Aufmerksamkeit.“ berichtet zum
Beispiel ein gestresster Vater über seine Tochter Julia (6). Streit und Auseinandersetzungen
sind in der vierköpfigen Familie
an der Tagesordnung. Julia bestimmt zu großen
Teilen den Tagesablauf und kämpft mit ihrer Mutter oder ihrer zwei
Jahre jüngeren Schwester. Im Verlauf des Gespräches stärkt Juul die
Empathie der Eltern für ihre älteste Tochter: „Es ist nicht einfach Julia zu
sein.“ Sein Augenmerk liegt auf der Individualität des Kindes. Mit einer
verständlichen und konkreten Sprache baut er einen guten Kontakt zu den Eltern
auf. Er scheut auch keine alltagspsychologischen Annahmen, um zum Beispiel
Julias Verhalten zu erklären: „In der Psychologie unterscheidet man zwei Typen
von Menschen: den nordischen und den südeuropäischen. Julia scheint mir eher
der südeuropäische Typ zu sein, bei denen wird es gerne etwas lebhafter, als
würde man in der Oper wohnen.“ Aus jedem Gespräch
werden am Ende noch einmal Juuls Tipps an die Eltern extrahiert und
zusammengefasst. Julias Eltern zum Beispiel sollen mit ihr reden wie mit einem
guten Freund und darauf vertrauen, dass Julia weiß, was sie braucht.

Juuls
Empfehlungen basieren im Grunde auf gesundem Menschenverstand sowie
Wertschätzung und Respekt gegenüber Kindern. Kinder bräuchten keine perfekten
Eltern, sondern Wegweiser wie Leuchttürme, an denen sie sich orientieren
können. Zudem ist es Juul wichtig, dass sich Eltern auch um sich selbst
kümmern, denn damit setzen sie gesunde Signale. Kinder lernen laut Juul stärker
durch Beobachtung und Nachahmung als durch erzieherische Reden. Er möchte, dass die Kinder beim Familiengespräch
dabei sind – ganz anders als etwa in Kindertagesstätten üblich. Juul geht davon
aus, dass Kinder keinen Schaden nehmen, wenn sie erleben, wie ihre Eltern sich
einer schwierigen Situation stellen, sondern davon profitieren.

Die Stärken des Buchs bilden eine klare, einfache Wortwahl
sowie eine optisch ansprechende, abwechslungsreiche Gestaltung. Zur Übersichtlichkeit
trägt bei, dass Juul die 18 Fälle nach dem gleichen Strickmuster behandelt. Zu
Beginn schildert er die Familiensituation und zitiert einen
Brief der Eltern, dann folgt das etliche Seiten lange Gesprächsprotokoll des zweistündigen
Coachings. Zum Abschluss fasst er seine Empfehlungen sowie das Nachgespräch mit
den Eltern zusammen. Inhaltlich geht Juul einen anderen Weg als viele seiner
Kollegen: Er lehnt »Bedienungsanleitungen« für den Umgang mit Kindern ab und
verzichtet deshalb auf goldene Erziehungsregeln; stattdessen geht er auf jede
Familiensituation individuell ein. Wer auf der Suche nach einer konkreten Lösung
für ein bestimmtes Erziehungsproblem ist, kann hier fündig werden. Für Leser,
die sich schon viel mit Erziehungsfragen beschäftigt oder gar eines von Juuls
zahlreichen anderen Büchern gelesen haben, bringt diese Lektüre jedoch nicht
viel Neues.


Jesper Juul (2011): "ELTERNCOACHING – Gelassen erziehen". Weinheim: Beltz Verlag

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