Es war vor etwa 30 oder 40 Jahren, da wurde eine einfache Formel aufgestellt, die einen “normalen” Blutdruckwert definierte. Sie bezog sich ausschließlich auf den systolischen Wert, denn dem diastolischen Wert wurde seinerzeit nur wenig Bedeutung zugemessen. Und die Formel lautete 100 + Alter. Klingt dynamisch und war es auch – bei der Berechnung.
So durfte ein 20-Jähriger einen Blutdruckwert von 120 mmHg systolisch haben, ein 50-Jähriger konnte sich 150 mmHg erlauben und ein 100-Jähriger demzufolge einen Blutdruck von systolisch 200 mmHg. Alles darüber war Bluthochdruck, alles darunter der niedrige Blutdruck. Im Laufe der 80-er und 90-er Jahre des letzten Jahrtausends wurde diese Berechnungsgrundlage für einen “normalen” Blutdruck abgeschafft, denn die Framingham-Studie, die einige Tausend Probanden seit 1948 beobachtete, zeigte einen Trend von erhöhter Mortalität bei Individuen mit hohen systolischen Werten unabhängig vom Alter.
Also gab man die 100-plus-Alter-Regel auf und einigte sich, dass für alle Altersgruppen die “120/80″ der goldene Standard sind. Der diastolische Wert erfuhr auch eine Aufwertung, denn man wurde sich damals bewusst, dass die Diastole (Füllung des Herzens mit Blut während der Erschlaffungsphase) für die Blutversorgung der Herzkranzgefäße verantwortlich war und somit hohe Werte hier ebenfalls schädlich sein mussten.
Dies war auch der Zeitpunkt, an dem das Geschäft mit dem Hochdruck besonders interessant geworden war, waren doch mit dieser Neudefinition schlagartig alle, die sich mit über 120/80 Sachen durch die Weltgeschichte bewegten, ein Fall für den Arzt. Nicht umsonst ist dies auch die Zeit der großen Entdeckungen von Antihypertensiva wie Betablocker, ACE-Hemmer und peripher wirksamer Calciumantagonisten.
Nachdem bis heute die Wissenschaft nicht eindeutig in der Lage ist, die Mechanismen der Blutdruckregulation zu erklären, ist es auch nicht sonderlich verwunderlich, wenn man nicht zu wissen scheint, wie ein “normaler” Blutdruckwert denn nun aussieht. Dementsprechend groß sind die Bemühungen für eine Klärung.
Unlängst kommt eine neue Studie zu diesem Thema aus den USA, aus dem Veterans Affairs Health Care System in Minneapolis und der University of Minnesota. Die Forscher dort sind der Überzeugung, dass etwa 100 Millionen Amerikaner fälschlicherweise als Hypertoniker eingestuft werden. Denn was sie in ihren Beobachtungen entdeckten, war, dass die Menschen mit einem sogenannten zu hohen Blutdruck nicht früher starben als die “Normalen”. Die Forscher konnten hingegen beobachten, dass bei den unter 50-Jährigen der diastolische Wert mehr über die Mortalität aussagt als der systolische Wert. Bei den über 50-Jährigen hingegen war der systolische Wert aussagekräftiger bezüglich einer gesteigerten Mortalität. Diese Beobachtung veranlasste die Forscher zu der Forderung, die Definition eines “normalen Blutdrucks” neu zu überarbeiten.
Insgesamt wurden die Daten von fast 14.000 Menschen gesichtet, die an der National Health and Nutrition Examination Survey 1971 bis 1976 teilgenommen hatten und die dann noch fast 20 Jahre nach beobachtet worden sind. Sie untersuchten die systolischen und diastolischen Blutdruckwerte und setzten diese in Abhängigkeit zu den Langzeit-Überlebensdaten. Um Vergleichsdaten zu bekommen, die unbehandelten Bluthochdruck dokumentierten, griffen die Forscher auf Daten von 6.600 Erwachsenen aus der ersten National Health Examination Survey zurück, die 1959 bis 1962 durchgeführt worden war. Hier sahen sie, dass Leute über 50 Jahre alt mit systolischen Werten von über 140 mmHg ein höheres Sterberisiko hatten, dass unabhängig vom diastolischen Wert war. Bei den unter 50-Jährigen zeigte ein diastolischer Wert von 100 mmHg und höher eine signifikant erhöhte Sterblichkeit.
Die Forscher schließen aus ihren Beobachtungen, dass die Wahl der Definition von dem, was man unter einem “normalen Blutdruckwert” zu verstehen hat, eine elementare Auswirkung auf Millionen von Amerikanern hat. Ich würde an dieser Stelle das Spektrum erweitern auf alle Menschen auf diesem Globus, die sich in die Hände der Schulmedizin begeben, die dieser Definition folgt. Denn unter der alten, noch bestehenden Definition scheint es keine signifikanten Unterschiede in der Sterblichkeit gegeben zu haben zwischen Menschen mit “normalen” und “abnormalen” Werten. Und diese Beobachtung ist über einen Zeitraum von 20 Jahren gemacht worden.
Was wollen uns diese Zahlen sagen?
Offensichtlich ist Blutdruck keine einfache Angelegenheit. Pille schlucken und schon sind ´mer über´n Berg. Denn die auf dem Markt befindlichen Pillen können auch hier wieder einmal nur die Symptome beeinflussen. An der Wurzel des Übels zerren die Antihypertensiva, so modern und evidenzbasiert sie auch sein mögen, auch heute noch nicht. Auch sind für diese Substanzen noch keine evidenzbasierten Befunde erhoben worden, die zeigen konnten, dass sie eine Lebensverlängerung bewirken. Was sie bewirken, sind bestenfalls Verhinderung von Schlaganfällen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen etc.
Das sind natürlich als absolut positiv anzusehende Wirkungen, ohne Zweifel. Aber diese Wirkungen sind auch “leicht” zu reproduzieren durch eine entsprechend wertvolle Ernährung, körperliche Bewegung und vor allem eine zeitweilige Kalorienrestriktion. Viele “abnormale” Blutdruckwerte lassen sich einfach mit Übergewicht erklären und durch die Normalisierung des Körpergewichts behandeln.
Für die etablierte Schulmedizin heißen diese Werte, die die vorliegende Studie erbracht hat, auch, dass erstens das scheinbar evidenzbasierte Behandlungskonzept der Hypertonie auf tönernen Füßen gestanden hat und steht. Es heißt, dass zweitens plötzlich Umdenken gefragt ist, wozu viele der Schulmediziner schon in der Vergangenheit eine mangelnde Bereitschaft signalisiert haben. Und drittens wird die Therapie des Bluthochdrucks komplizierter, weil bei der Diagnose auf ein paar neue Parameter geachtet werden müssen. Die Komplexität hält sich zwar noch in Grenzen, aber ich habe den vagen Verdacht, dass dies in der Zukunft nicht so bleiben wird.
Je mehr die Wissenschaft dann vielleicht doch noch über den Wirk- und Regelmechanismus des Blutdrucks herausfindet, umso komplexer wird auch eine kompetente Beeinflussung von z.B. unerwünschten Blutdruckwerten werden. Wir haben heute schon eine Reihe von Konditionen, die bei einer einfachen Blutdruckmessung mit berücksichtigt werden müssten, was aber oft nicht passiert. Da gibt es Ruhe- und Belastungsblutdrücke. Der psychische Zustand nimmt Einfluss auf das Blutdruckverhalten. Alle diese Faktoren in die praktische Bewertung einzubeziehen, was ein normaler und kein normaler Blutdruckwert ist, ist in der heutigen Praxis selten üblich. Vielleicht ist aus dieser Sicht diese Studie auch ein Anfang und Plädoyer für eine differenziertere Herangehensweise in der Behandlung der Hypertoniker.
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