Joseph Beuys – seine Phase der depressiven Erkrankung als Wegmarke zur Neuorientierung

Der deutsche Künstler Joseph Beuys (1921-1986) widmet sich insbesondere in seiner Rauminstallation: „Zeige deine Wunde“, die im Januar 1980 in einem Münchener Kunstmuseum ausgestellt wird, tabuisierten Themen wie Krankheit, Leid, Vergänglichkeit und Tod. Das Interesse des Künstlers für diese Themen erklärt sich aus seiner Biographie: Beuys wird als Kampfflieger im Zweiten Weltkrieg eingesetzt und erleidet bei einem Absturz seines Kampfflugzeuges auf der Krim im März 1944 schwere Verwundungen. Aufgrund dieser Kriegsereignisse sowie materieller Entbehrungen ist Beuys in den 1950er Jahren Erschöpfungszuständen ausgesetzt. Nachdem seine zukünftige Ehefrau an Weihnachten 1954 die Verlobung mit ihm gelöst hat, gerät Beuys in eine depressive Krise. Der Künstler verbringt mehrere Wochen in einem verdunkelten Zimmer und hegt Todesgedanken, bis er die Einladung der Familie van der Grinten in Kranenburg annimmt, bei der er einige Wochen wohnt. Während dieser Zeit hilft Beuys aktiv bei der Feldarbeit auf dem Hof der Familie mit und kann schließlich im Sommer 1957 von seiner depressiven Erkrankung genesen. Später betrachtet Beuys diese Krankheitsphase als Phase der Läuterung, an deren Ende er einen neuen künstlerischen Anfang wagt.

München, der 22. Januar 1980. In der Städtischen Galerie im Lenbachhaus, einem Kunstmuseum der bayrischen Landeshauptstadt, bietet sich der Anblick einer ungewöhnlichen Installation: In einem großen Raum befinden sich fünf doppelte Objekte, darunter in einer Ecke zwei alte Leichenbahren aus der Pathologie und zwei Kästen aus verzinktem Eisenblech mit Glasscheibe, die von hinten mit Fett bestrichen ist. Zwei weitere Zinkblechkästen in dieser Ecke sind mit Fett gefüllt und jeweils mit einem Fieberthermometer sowie einem Reagenzglas ausgestattet, wobei beide Reagenzgläser jeweils einen Drosselschädel enthalten. Zu dieser Gruppe von Objekten gehören außerdem zwei Weckgläser, die mit Gazefilter abgedeckt sind. Teil der Installation sind ferner zwei schmiedeeiserne Forken mit Holzstiel, um die jeweils ein buntes Halstuch gebunden ist. Auf zwei Schultafeln steht mit Kreide in kindlicher Schrift der Titel der Rauminstallation: „Zeige deine Wunde“.

Urheber dieser Rauminstallation ist der deutsche Künstler Joseph Beuys (1921-1986), der mit diesem Werk, das erstmals Anfang 1976 im Kunstforum einer Münchner Fußgängerunterführung gezeigt wird, existentielle Themen anschneidet: Die Konstellation der ausgestellten Objekte, die zunächst noch keine nennenswerte Resonanz findet, ruft gesellschaftlich tabuisierte und verdrängte Themen wie Krankheit, Leid, Vergänglichkeit und Tod in Erinnerung. Das Fett, das ein wesentlicher Bestandteil der Rauminstallation ist, zählt außer den Stoffen Filz, Kupfer und Honig zu den zentralen Arbeitsmaterialien, die Beuys immer wieder in seinen Werken verwendet. Die Tatsache, dass sich Beuys insbesondere im oben genannten Werk den Themen Verwundbarkeit, Krankheit und Vergänglichkeit widmet, ist in seiner Biographie begründet: Beuys leistet ab 1941 Kriegsdienst bei der Luftwaffe und wird im Zweiten Weltkrieg als Bord-schütze und Funker eines Sturzkampfflugzeugs vom Typ Ju 87 im damaligen Protektorat Böhmen und Mähren eingesetzt. Am 16. März 1944 wird sein Flugzeug nach einem Angriff auf eine russische Flakstellung beim Abfangmanöver von einem Geschütz getroffen, gerät in einen Schneesturm und stürzt im nördlichen Teil der Krim ab. Während der Pilot Hans Laurinck noch am Unfallort stirbt, wird der schwer verletzte Beuys am 17. März 1944 von einem deutschen Suchkommando in das mobile Feldlazarett 179 nach Kruman-Kemektschi eingeliefert, das er am 7. April 1944 verlassen kann. Beuys selbst berichtet später, er sei nach dem Absturz der Ju 87 in einer völligen Einöde in der Näher der Trümmer des Kampfflugzeuges von Tataren aufgefunden worden. Seiner Schilderung zufolge hat eine Gruppe dieses nomadisierenden Volkes Beuys in ihr Lager gebracht und aufopferungsvoll gepflegt, wobei die Tataren seine Wunden mit Fett gesalbt, ihn in wärmenden Filz gewickelt und mit Milchprodukten sowie Honig genährt haben. Diese Erinnerung des Künstlers, die sich vermutlich auf eine Zeitspanne von wenigen Stunden nach dem Absturz des Kampfflugzeuges bezieht, wird zu einer Legende, die von vielen seiner Biographen vertreten wird. Diese Legende erklärt Beuys‘ Vorliebe für die zentralen Arbeitsmaterialien Fett, Filz und Honig, die er außer dem Wärme leitenden Element Kupfer immer wieder in seinem Werk verwendet.

Joseph Beuys wird am 12. Mai 1921 in Kleve als Sohn eines Kaufmanns geboren. Nach seinem Abschluss am Staatlichen Gymnasium in Kleve im Jahr 1941 beginnt er zunächst ein naturwissenschaftliches Studium, bis er von der Luftwaffe zum Kriegsdienst einberufen wird. Nach zahlreichen Einsätzen als Kampfflieger während des Zweiten Weltkriegs wird er gegen Kriegsende in ein britisches Internierungslager überführt, das er im August 1945 verlassen darf. In den darauffolgenden Jahren 1946 bis 1955 schließt sich Beuys dem Klevener Künstlerbund an und studiert ab dem Jahr 1947 die Fächer Malerei und Bildhauerei an der Kunstakademie Düsseldorf. Von 1949 an ist er ein Schüler des Deutschen Bildhauers und Grafikers Ewald Mataré, zu dessen Meisterschüler er ab dem Jahr 1951 avanciert. Zwei Jahre später stellt Beuys in einer Einzelausstellung in Wuppertal und Kranenburg erstmals eigene Skulpturen und Zeichnungen vor. Beuys wird im Jahr 1961 Professor an der Kunstakademie Düsseldorf, wo er zu einem der Hochschullehrer mit dem größten Zulauf in Deutschland aufsteigt. Der Künstler und Hochschullehrer engagiert sich für ein gerechteres Aufnahmeverfahren an den Hochschulen und beteiligt sich ab dem Jahr 1964 regelmäßig an der documenta, einer Ausstellung für zeitgenössische Kunst in Kassel. Am 23. Januar 1986 stirbt Beuys in Düsseldorf an Herzversagen.

Im Jahr 1954 beginnt ein Umbruch in der künstlerischen Entwicklung von Beuys, der seine religiös motivierten Arbeiten durch naturwissenschaftliche Betrachtungsweisen erweitert. Während dieser künstlerischen Phase befindet sich Beuys in den Jahren 1956 und 1957 in einer depressiven Krise, in deren Verlauf er mehrfach ärztlich behandelt werden muss. Die Hintergründe dieser Krise sind materielle Entbehrungen und ein Zustand körperlicher Erschöpfung, der durch die zahlreichen und schweren Verwundungen des Künstlers während des Krieges bedingt ist. Ferner löst Beuys‘ jüngere Verlobte, die er im Jahr 1949 kennengelernt hat, zu Weihnachten 1954 die Verlobung, sodass der Künstler einen Schock erleidet. In der schwersten Phase seiner Depression schließt sich Beuys für mehrere Wochen in der Heerdter Wohnung seines verreisten Dichterfreundes Adam Rainer Lynen ein, wo er in einem verdunkelten Zimmer lebt. Von einem Klever Schreiner lässt sich Beuys eine Kiste aus Holz anfertigen, die er vollständig mit Teer beschmiert und in sein Atelier nach Heerdt bringt. Zu diesem Zeitpunkt hegt Beuys die Vorstellung, sich in diese Kiste zu setzen oder aber sich in Tibet einmauern zu lassen, um in einem leeren, isolierten Raum auf seinen eigenen Tod zu warten. Der Künstler fühlt sich völlig energielos und magert immer weiter ab, bis die Familie van der Grinten, deren Söhne dieselbe Schule besucht haben wie er, ihn zu sich nach Kranenburg einlädt. Beuys nimmt dieses Angebot an und wohnt sechs Wochen bei der befreundeten Familie auf dem Lande, wobei er sich häufig aktiv an der Feldarbeit beteiligt und außerdem neue Zeichnungen sowie Aquarelle anfertigt. Die Zeit, die Beuys bei der Familie van der Grinten verbringt, verhilft Beuys zu seiner Genesung im Sommer 1957. Später betrachtet er die Phase seiner seelischen Erkrankung als eine Form der Läuterung, wie es seine folgenden Worte nahelegen: „[…] Der Initialvorgang war ein allgemeiner Erschöpfungszustand, der sich allerdings schnell in einen regelrechten Erneuerungsvorgang umkehrte. […] Krankheiten sind fast immer auch geistige Krisen im Leben, wo alte Erfahrungen und Denkvorgänge abgestoßen beziehungsweise zu durchaus positiven Veränderungen umgeschmolzen werden. […]“

Depressionen sind eine häufige Form der seelischen Erkrankungen und zählen zu den affektiven Störungen. Hierbei handelt es sich um eine Gruppe von Erkrankungen, bei denen Störungen der Gemütsbewegung, der Stimmung und des Antriebs im Vordergrund stehen, die mit verändertem Denken einhergehen. Es existieren unterschiedliche Formen von Depressionen, die aufgrund festgelegter Kriterien voneinander abgegrenzt werden, zu denen beispielsweise der Schweregrad, der Verlauf und die auslösenden Faktoren der Depression zählen. Inzwischen geht man davon aus, dass Depressionen mehrere Faktoren gleichzeitig als Ursache haben, die je nach Form der vorliegenden Depression in unterschiedlicher Gewichtung von Bedeutung sind. Mögliche Faktoren, die eine Depression auslösen können, sind unter anderem körperliche Erkrankungen, eine genetisch bedingte Anfälligkeit oder auch soziale Belastungen wie etwa der Verlust des Arbeitsplatzes oder eines nahestehenden Menschen. Typische Symptome einer depressiven Erkrankung sind beispielsweise eine traurige, gedrückte Stimmung, eine erhöhte Ermüdbarkeit, mangelnde Energie, verringerter Appetit, eine negative Sicht der Zukunft und ein vermindertes Selbstwertgefühl. Treten Symptome dieser Art fortlaufend über einen Zeitraum von mehreren Wochen auf, so ist es ratsam, einen Arzt aufzusuchen. Zieht der Betroffene einen Arzt für Psychiatrie zu Rate, so wird dieser ein ausführliches Gespräch mit dem Patienten führen, um herauszufinden, ob es sich im gegebenen Fall um eine depressive Erkrankung handelt und welcher Form der Depression diese zuzuordnen ist. Stellt der Arzt eine Depression fest, so wird er Möglichkeiten der Behandlung vorschlagen, die individuell auf das Krankheitsbild und die Bedürfnisse des Patienten abgestimmt sind. Depressionen können durch spezielle Medikamente, die als Antidepressiva bezeichnet werden, behandelt werden. Außerdem ist bei allen Formen depressiver Erkrankungen eine Behandlung durch Psychotherapie ratsam, deren Form und Art der Durchführung dem einzelnen Patienten anzupassen ist. Sofern die genannten Möglichkeiten der Behandlung von Depressionen keinen ausreichenden Erfolg haben, werden in seltenen Fällen andere Verfahren wie etwa Elektrokrampftherapie (EKT), Schlafentzug oder Lichttherapie angewendet.

Beuys hat seine depressive Erkrankung zu einem wesentlichen Teil durch die Phase seines Zusammenlebens mit der Familie van der Grinten überwunden, die er zu diesem Zeitpunkt aktiv bei der Bewirtschaftung ihres Hofes unterstützt. Durch diese Umstände gelingt es Beuys, wieder Vertrauen zu seiner eigenen Schaffenskraft zu fassen und sich in seiner künstlerischen Laufbahn neu zu orientieren. Somit betrachtet Beuys die Zeitspanne seiner depressiven Lebenskrise später als eine Phase der Läuterung, durch die er zu neuartigen Erkenntnissen gelangt, auf deren Basis er einen neuen künstlerischen Anfang wagt.

Melanie Geiser, M. A.

Quellen:

  • Adriani, G. et al.: Joseph Beuys. DuMont Buchverlag, Köln 1994.
  • Arolt, V. et al.: Basiswissen Psychiatrie und Psychotherapie. Springer, Heidelberg 2007.
  • Ganzer, I.: „‘Zeige Deine Wunde‘: Das Leiden bei Beuys und Schopenhauer“. Suite101.com Media inc.
    www.suite101.de (Abruf: 05/2011).
  • Gieseke, F. et al.: Flieger, Filz und Vaterland: Eine erweiterte Beuys-Biographie.
    Elefanten Press Verlag, Berlin 1996.
  • Kaiser, S.: WHO’S WHO. The People-Lexicon: “Joseph Beuys”
    www.whoswho.de (Abruf: 05/2011).
  • Kunstakademie Düsseldorf – Homepage.
    www.kunstakademie-duesseldorf.de/startseite.html (Abruf: 05/2011).
  • Kunstmarkt Media GmbH & Co. KG – Homepage
    www.kunstmarkt.com
    (Abruf: 05/2011).
  • Möller, H.-J. et al.: Duale Reihe. Psychiatrie und Psychotherapie. Thieme, Stuttgart 2005.
  • Munzinger Online/Personen – Internationales Biographisches Archiv: „Joseph Beuys“
    www.munzinger.de (Abruf: 04/2011).
  • Pschyrembel. Klinisches Wörterbuch. Walter de Gruyter, Berlin 2007.
  • Robert Koch-Institut: Depressive Erkrankungen. Heft 51 aus der Reihe: Gesundheitsberichtserstattung des Bundes. Selbstverlag, Berlin 2010.
  • Stachelhaus, H.: Joseph Beuys. Claassen Verlag, Düsseldorf 1988.
  • Städtische Galerie im Lenbachhaus – Homepage
    www.lenbachhaus.de/cms/index.php?id=1 (Abruf: 05/2011)
  • Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland: „Joseph Beuys“.
    www.hdg.de/stiftung (Abruf: 05/2011).
  • Wunn, E.: BASICS Psychiatrie. Elsevier, München 2006.

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