In der Prävention für schwule Männer und Drogengebraucher wurde viel erreicht – doch Menschen in Haft profitieren davon kaum. Ideologische Blockaden gefährden ihre Gesundheit und ihr Leben.
In den deutschen Gefängnissen ist die Zeit stehen geblieben. Draußen, in Freiheit, gibt es eine moderne und erfolgreiche Drogenpolitik. Sie holt die Drogengebraucher dort ab, wo sie stehen. Sie lindert die größte Not und bietet Hilfe an. Mit Erfolg: Die Zahl der Todesfälle sinkt. HIV-Infektionen bei Menschen, die sich Drogen spritzen, sind eine Seltenheit geworden. 2010 starben 1.237 Menschen durch den Konsum illegaler Drogen, sieben Prozent weniger als im Jahr davor. „Der Rückgang bestätigt den Trend eines kontinuierlichen Rückgangs seit 2000“, vermeldete die Drogenbeauftragte der Bundesregierung Mechthild Dyckmans im März.
Die deutschen Justizvollzugsbehörden pflegen eine Null-Toleranz-Politik
Doch die Erfolgsmeldungen gelten nur für Menschen in Freiheit. Hinter Gefängnismauern sieht es düster aus. Spritzentausch zur Vermeidung von HIV-Infektionen? Fehlanzeige! Niedrigschwellige Therapieangebote? Nichts da! Die deutschen Justizvollzugsbehörden pflegen eine Null-Toleranz-Politik, wie sie zuletzt vor über 20 Jahren üblich war. Das Ergebnis: verheerende Zustände. Obwohl es in den Gefängnissen offiziell keine Drogen geben darf, wird rege gedealt und konsumiert – unter teils schauerlichen Umständen.
Peter* kann das drastisch beschreiben. 1992 wurde der heute 39-Jährige wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz zu zwei Jahren Haftstrafe verurteilt. Zehn Monate war er in einer JVA in Nordrhein-Westfalen untergebracht, die restliche Haftzeit in einer therapeutischen Einrichtung. „Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie sich jemand eine Spritze gebaut hat – aus einer Kugelschreibermine.“ An der Zündfläche einer Streichholzschachtel wurde die leere Mine angespitzt. Eine solche Behelfsnadel ist weder besonders scharf, noch steril – aber es reicht, um sie in eine Vene zu stecken. „Den Stoff nimmst du dann in den Mund und bläst ihn mit leichten Druck durch die Mine“, erläutert Peter. Die Folge: viel Blut, starke Schmerzen. „Das ist sehr gefährlich, weil immer auch Luft in die Vene geraten kann. Aber wenn du Drogen willst, ist eine stumpfe Nadel kein Hindernis. Die Hemmschwellen sinken schnell im Knast.“
„Wenn du Drogen willst, ist eine stumpfe Nadel kein Hindernis“
Die Kugelschreibermine blieb Peter erspart. Er kam an medizinische Spritzen. Da er sich für eine Entzugstherapie gemeldet hatte, gewährte man ihm Ausgang. Er durfte regelmäßig in eine Drogenberatungsstelle. Dort bekam er kostenlos Körperpflegemittel – und Insulinspritzen. „Die sind so dünn, die passen in eine große Shampooflasche. Du musst die Flasche gar nicht aufschneiden, sondern kannst die Spritze oben in die Öffnung reinschieben.“ Die Eingangskontrolle konnte Peter problemlos passieren.
Aber auch mit einer medizinischen Spritze wird der Drogenkonsum in Haft zum Va-banque-Spiel. Oft teilen sich vier bis fünf Leute eine „Stationspumpe“. Sie wird ungereinigt weitergereicht. „Du kriegst im Knast ja nicht einfach so Desinfektionszeug“, sagt Peter lakonisch. Mehrere Nutzer an einer verunreinigten Nadel – das ist einer der wichtigsten Übertragungswege für HIV und Hepatitis C. Aber Peter nahm das enorme Infektionsrisiko in Kauf. „Das zeigt ganz gut, was Sucht ausmacht“, sagt er rückblickend. „Du denkst dir immer, wird schon gut gehen.“
„Du denkst dir immer, wird schon gut gehen.“
Die katastrophale Praxis in vielen deutschen Haftanstalten hat Folgen. Bei einer Untersuchung des Robert Koch-Instituts im Frauengefängnis Berlin-Lichtenberg wurden freiwillige HIV-Tests angeboten. 18 Prozent der Teilnehmerinnen waren HIV-positiv. Allgemein kommen Infektionskrankheiten – vor allem HIV und Hepatitis – bei Menschen in Haft sehr viel häufiger vor als in der erwachsenen Gesamtbevölkerung. Die HIV-Prävalenz ist je nach Region bis zu 20-mal höher, die von Hepatitis C sogar bis zu 40-mal.
Dennoch gibt es bundesweit derzeit nur eine Haftanstalt, in der zumindest Spritzentausch angeboten wird. Mehrere Modellversuche wurden eingestellt. „Das war ein Desaster für die Prävention“, sagt Bärbel Knorr von der Deutschen AIDS-Hilfe. Selbst Haftanstalten mit einem hohen Anteil von Drogengebrauchern hätten nur selten ein Drogenkonzept. „Im Justizvollzug haben Sicherheit und Ordnung höchste Priorität. Alles andere ist nachrangig.“
„Der Anlass, Modellversuche zu beenden, waren immer Wahlen und politischer Machtwechsel“
Die meisten Länder ignorieren die Missstände hinter Gittern mit dem Verweis auf Recht und Gesetz. „Der Anlass, Modellversuche zu beenden, waren immer Wahlen und politischer Machtwechsel“, berichtet Bärbel Knorr. „Das dient oft als populistisches Signal, dass nun wieder für Ordnung gesorgt würde.“ Trauriger Tiefpunkt dieser Symbolpolitik: 2002 ließ sich der damalige Hamburger Justizsenator Roger Kusch im Gefängnis von der Boulevardpresse beim Abhängen eines Spritzentauschautomaten fotografieren.
„Die größte Enttäuschung ist, dass diese strikte Haltung Ansätze kaputt macht, die sich auch in Haftanstalten bewährt haben“, beklagt Bärbel Knorr. Die Hilfsangebote in Deutschland hätten sich in den letzten 30 Jahren als überaus wirkungsvoll erwiesen. „Draußen ist die Spritzenvergabe mittlerweile flächendeckend eingeführt, Substitutionsangebote werden ausgebaut.“ Ein gar nicht so seltener Fall: Ein Drogengebraucher macht erfolgreich eine aufwendige und kostspielige Therapie, kommt dann aber für ein paar Wochen in Haft, weil er eine Geldstrafe nicht bezahlen kann. „Weil er dort nicht substituiert wird, fängt er wieder mit dem Drogenkonsum an und infiziert sich womöglich auch noch mit Hepatitis C“, so Knorr. „Das ist der Hammer!“
Am Ende bewegt sich fast nichts
So schnell wird sich an diesen skandalösen Zuständen nichts ändern. Denn der Justizvollzug ist allein Sache der Bundesländer. Um Veränderungen anzustoßen, muss die Deutsche AIDS-Hilfe in 16 Ländern gleichzeitig Lobbyarbeit machen. Am Ende bewegt sich fast nichts.
Das ist schade. Denn die Präventionspolitik der Bundesrepublik in Sachen HIV wird in den europäischen Nachbarstaaten mit großem Interesse und viel Respekt verfolgt. Leider gilt das nicht für die Zustände in den hiesigen Haftanstalten. Hier sollte sich Deutschland ein Beispiel an einem derzeit oft kritisierten Land nehmen: In Spanien entschied das Generaldirektorat für das Justizvollzugssystem bereits im Juni 2001, in allen 68 Haftanstalten des Landes sukzessive Spritzenvergabe-Projekte einzuführen. Aber die deutschen Gefängnisse verharren noch immer in der Vergangenheit.
*Name geändert
Philip Eicker
Hier finden sich ergänzende Informationen zur Prävention für Menschen in Haft.