Viel Lob erhielt am Mittwoch beim Deutsch-Österreichischen AIDS-Kongress in Hannover der Eröffnungsvortrag von Siegfried Schwarze, Vertreter des Community-Boards. Wir dokumentieren ihn hier im Wortlaut.
Vielen Dank für die Gelegenheit, einige Worte im Namen des Community Boards an Sie richten zu dürfen. Das Board besteht aus den beiden österreichischen Teilnehmern, Wiltrut Stefanek und Stephan Mayr, aus Deutschland kommen Roland Berg, David Leyendecker, Engelbert Zankl und ich.
„Wissen schafft Dir Perspektiven“ – so das Motto dieses Kongresses. Wissen schafft Dir Perspektiven. Sorry, aber das reicht uns nicht! Wissen allein reicht nicht – man muss es auch umsetzen. Es genügt nicht zu wollen, man muss es auch tun.
So befinden wir uns heute an einem Punkt der Geschichte von HIV, an dem wissenschaftliche Erkenntnis und gesellschaftliche Realität weiter auseinanderklaffen denn je zuvor.
Wir „wissen“ heute, das HIV-Infizierte ohne nachweisbare Viruslast nicht infektiös sind, aber Diskriminierung, Stigmatisierung und Mobbing sind sehr wohl noch nachweisbar. Sensationsprozesse mit Prominenten sind da nur die Spitze des Eisbergs.
Vor einiger Zeit hatte ich einen Autounfall – nichts Dramatisches, ich hatte keine Verletzung, aber ich hatte starke Schmerzen in der Hüfte und sollte geröntgt werden. Bei der Aufnahme im Krankenhaus hatte ich brav meine erfolgreich behandelte HIV-Infektion angegeben. Als der Röntgenarzt meine Anamnese las, zog er sich als erstes zwei Paar Handschuhe an. Der Röntgenarzt. Wissen allein reicht eben nicht.
„Wissen schafft Dir Perspektiven.“ Wissen ist Macht. Aber wie viel Macht sollen andere, dürfen andere über uns haben? Wie viel müssen sie, wie viel dürfen sie über uns wissen?
“Diskriminierung und Stigmatisierung sind sehr wohl noch nachweisbar.”
Das Wissen über andere Personen muss auf das unbedingt Notwendige beschränkt bleiben. In der Medizin wie auch bei der Arbeit und im Umgang mit Firmen und Behörden brauchen wir einen effizienten Datenschutz – nicht nur, aber besonders im Bereich HIV.
HIV ist eben immer noch weit von der Normalität entfernt. Es ist schon schwer genug – mit einem Schwerbehindertenausweis – Arbeit zu bekommen. Wenn der Arbeitgeber aber dann erfährt, dass der Grund für den Schwerbehindertenstatus eine HIV-Infektion ist, dann ist man plötzlich zu jung, zu alt, überqualifiziert oder spricht eine Fremdsprache zu wenig.
Und selbst wenn man es geschafft hat, einen Arbeitsplatz zu ergattern: Wer wegen Burn-out in Kur gehen muss, dem klopft man aufmunternd auf die Schulter. Wer wegen HIV einen Kurantrag stellt, dem gibt man nicht mal mehr die Hand.
Doch wo auf der einen Seite das Wissen über den anderen begrenzt werden muss, gibt es im zwischenmenschlichen Bereich die Notwendigkeit, das Wissen über einander zu vertiefen. Miteinander reden, über Gefühle, über Sexualität, aber auch über Gesundheit und Infektionen – das muss im vertrauensvollen Umgang miteinander selbstverständlich werden. Indem ich dem anderen Wissen über mich gebe, schaffe ich dem „Wir“ eine Perspektive.
„Wissen schafft Dir Perspektiven.“ Wir wissen inzwischen, dass die Perspektive der Heilung der HIV-Infektion durchaus realistisch ist. Wenn auch noch nicht für die breite Masse. Dennoch müssen wir uns langsam Gedanken machen, wie wir damit umgehen. In einer Zeit immer stärker begrenzter Ressourcen werden es nicht nur ethische, sondern handfeste wirtschaftliche Fragen sein, denen wir uns stellen müssen.
Dazu gehört aber auch, dass wir miteinander reden, uns austauschen und vernetzen. Nicht nur deutschlandweit. Obwohl wir auf europäischer und internationaler Ebene schlagkräftige Organisationen haben, lassen die Vernetzung und Kommunikation zwischen den deutschsprachigen Ländern, zwischen Deutschland, Österreich und der Schweiz oft sehr zu wünschen übrig. Da können wir dringend neue Perspektiven brauchen.
Aber tun wir nicht so, als ob im eigenen Land alles rosig wäre. Wir brauchen dringend einen intensiveren Austausch zwischen Patienten, Ärzten, Wissenschaft, Politik und Wirtschaft. Worthülsen wie „Added Value“ und „Win-Win-Situation“ müssen endlich mit Inhalt gefüllt werden und wissenschaftliche Erkenntnisse müssen schneller im gesellschaftlichen Alltag umgesetzt werden – zum Nutzen aller Beteiligten. Doch „schnell“ darf dabei nicht „übereilt“ bedeuten. Perspektiven nützen nichts, wenn sie den Blick in die falsche Richtung lenken.
Denn: „Nicht Kunst und Wissenschaft allein, Geduld will bei dem Werke sein.“
Und, um mit einem weiteren Goethe-Zitat zu schließen: „Der Worte sind genug gewechselt / Lasst mich auch endlich Taten sehen! / Indes Ihr Komplimente drechselt, kann etwas Nützliches geschehn.“
Vielen Dank!