Vom 25. bis 27. Mai fand in Estlands Hauptstadt Tallin die Konferenz „HIV in Europa – Einheit und Vielfalt“ als Teil des Public Health Programms 2008–2013 der EU statt. Eine Rückschau von Sergiu Grimalschi und Carolin Vierneisel vom DAH-Fachbereich „Internationales“.
Rund 500 Repräsentanten aus Zivilgesellschaft, Politik und Forschung diskutierten in Tallin über bisher Erreichtes und noch zu Bewältigendes in der HIV-Prävention, in Behandlung und Betreuung – mit besonderem Blick auf die Situation in Osteuropa. Ausdrücklich eingeladen und entsprechend zahlreich gekommen waren Delegierte von Selbsthilfenetzwerken und Nichtregierungsorganisationen, was sich auf den Podien allerdings nicht widerspiegelte. Dort nämlich dominierten wie gehabt die Akteure aus staatlichen, transnationalen und wissenschaftlichen Einrichtungen. Insgesamt waren 45 Länder vertreten, besonders aus Ost-, Südost- und Nordeuropa.
„Besonders massiv ist die Diskriminierung im Medizinbereich“
Tallinn hatte man aus gutem Grund als Konferenzort gewählt: Mit einer HIV-Prävalenz von 871 Infizierten pro 100.000 Einwohnern liegt Estland an der Spitze der EU-Länder und, bezogen auf Gesamteuropa, auf dem zweiten Platz hinter der Ukraine. In dem baltischen Land, das etwas größer ist als die Schweiz, leben nur etwa 1,3 Millionen Menschen. Die wirtschaftliche Situation ist gut, das Bruttoinlandsprodukt (BIP) wächst seit 2000 jährlich um mindestens fünf Prozent, und seit Januar 2011 gehört es zur Eurozone.
In Estland leben über 7.000 HIV-Positive, und jeden Tag, so heißt es, kommt eine weitere Neuinfektion hinzu. Vertreter von Positivenorganisationen begründen die hohen Zahlen mit der starken Ausgrenzung, die Drogengebraucher, ethnische Minderheiten und vor allem HIV-Positive tagtäglich erleben. „Die negative Einstellung gegenüber diesen Menschen ist bei uns ein großes Problem. Besonders massiv ist die Diskriminierung im Medizinbereich“, sagte Igor Sobolev, Vorstand einer der beiden estnischen Positivenorganisation.
Staatenlose fühlen sich diskriminiert und ausgeschlossen
Als das Land unabhängig wurde, startete es eine stark selektive Einbürgerungspolitik. Einem Konferenzteilnehmer – kein „Besatzungsrusse“, sondern ein Deutschstämmiger, dessen Vorfahren schon seit dem Mittelalter in Tallinn leben – wurde die Einbürgerung verweigert, weil er wegen Drogengebrauchs vorbestraft ist. Der bis heute „Staatenlose“ teilt sein Schicksal mit vielen anderen, die sich wie er diskriminiert und ausgeschlossen fühlen. Dass Ausgrenzung die Ausbreitung von HIV begünstige, war denn auch einer der zentralen Aspekte der Konferenz. Die Stigmatisierung und Kriminalisierung von HIV-Positiven und intravenös Drogen Gebrauchenden sowie die Weigerung, Maßnahmen der Risikominimierung, z. B. die Substitutionsbehandlung einzuführen (wie etwa in Russland, wo die Zahl der Drogenkonsumenten auf zwei bis über vier Millionen geschätzt wird) oder auszubauen, verhindern in vielen osteuropäischen Ländern sichtbare Erfolge in der HIV-Prävention.
Die HIV-Prävention in Europa braucht mehr politische Unterstützung
In den letzten Jahren hat Estland allerdings auch deutliche Fortschritte in Richtung einer Prävention und Behandlung gemacht, die auf die „HIV-Schlüsselgruppen“ – besonders i.v. Drogengebraucher und Männer, die Sex mit Männern haben (MSM) – zugeschnitten ist. Man hat dafür viel Geld ausgegeben, und die Situation hat sich etwas stabilisiert. Weil es die Politik aber so lange versäumt hat, sich um die (meist russischsprachigen) Drogenkonsumenten zu kümmern, wird Estland noch lange die europäische HIV-Statistik anführen. Intravenöser Drogengebrauch war daher auch häufig Thema in Tallinn, aber auch der mann-männliche Sex.
„Um nachhaltige Erfolge zu erzielen, braucht die HIV-Prävention in Europa mehr politische Unterstützung und bessere rechtliche Rahmenbedingungen“, lautete das Fazit der Konferenz. Welche Instrumente der HIV- und Aids-Prävention wirksam sind, sei seit fast 30 Jahren bekannt, man müsse sie nur akzeptieren und effizient anwenden, sagte Pauli Leinikki vom finnischen Staatsinstitut für Gesundheit und Sozialwesen in seiner Schlussrede.