Eine Lehrerin übt Selbstjustiz und verkündet den jugendlichen Mördern ihrer Tochter, sie mit HIV-verseuchter Milch infiziert zu haben. In „Geständnisse – Confessions“, Oscar-Kandidat aus Japan, werden alte Aids-Ängste zum Einsatz im Kampf einer Pädagogin mit einer entfesselten Jugend. Von Axel Schock
Die Klassenlehrerin Yuko Moriguchi (Takako Matsu) gibt auf. Ihre pädagogischen Konzepte haben offenkundig versagt: Vor ihr tobt eine Meute halbwüchsiger Mittelschüler. Die japanische Jugend, wie sie sich in diesen ersten Filmminuten von „Geständnisse“ präsentiert, hat den Respekt vor den Erwachsenen verloren und ist zu konsumgesteuerten Egoisten, frei von moralischen Grundwerten, herangewachsen. Mobbing gehört zum Alltag der Schüler, manche schrecken auch vor brutaler körperlicher Gewalt nicht zurück.
Mit einer irritierend kühl vorgetragenen Erklärung vermag Yuko Moriguchi dann doch noch die Aufmerksamkeit der Schüler zu erlangen. Ihre kleine Tochter sei keineswegs durch einen tragischen Unfall im Schulschwimmbecken ums Leben gekommen, vielmehr sei es ein kaltblütig geplanter Mord gewesen. Und beide Täter seien Schüler dieser Klasse. Weil diese aber aufgrund ihres Alters noch nicht strafmündig seien und deshalb keine Strafe zu erwarten hätten, habe sie sich dazu entschlossen, selbst für Gerechtigkeit zu sorgen.
Alte Aids-Ängste, in Echtzeit kommuniziert über soziale Medien
In stilvollen, geradezu poetischen Bildern visualisiert Regisseur Tetsuya Nakashima den Racheplan der Lehrerin: Eine Spritzennadel dringt in eine Milchpackung, Blut vermischt sich in Zeitlupe als rote Wolke mit der fast unnatürlich leuchtend-weißen Milch. Auf diese Weise will Yuko Moriguchi die Schulmilch der beiden Täter mit HIV-infiziertem Blut
verseucht haben.
Man weiß zunächst nicht, was man für irritierender halten soll: dass Nakashima keine andere Rachephantasie eingefallen ist, als mit einer überkommenden Form von Aids-Angst zu hantieren, oder aber dass japanische Schulkids fähig sind, das Geschehen im Klassenzimmer in Echtzeit auf sozialen Plattformen zu kommunizieren und zu kommentieren, wobei ihnen aber offensichtlich die grundlegendsten Informationen zu Übertragungswegen fehlen.
Unter den Schülern herrscht sofort blinde Panik, die vermeintlich HIV-infizierten Schüler werden sogleich wie Aussätzige behandelt. Naoki (Kaoru Fujiwara) wird diesen Status nutzen, um seine Einzelkämpferrolle innerhalb der Schule zu festigen, der hochbegabte Shuya (Yukito Nishii) hingegen verschanzt sich zu Hause in seinem Zimmer, aus Angst seine Mutter anstecken zu können.
Einfache Antworten auf die Fragen nach Schuld, Sühne, Vergebung werden immer schwerer
„Geständnisse“, soviel wird bald klar, ist für Tetsuya Nakashima mehr als eine der knallbunten Teenie-Komödien wie “Kamikaze Girls“ und “Memories of Matsuko“, mit denen er als Filmemacher international bekannt wurde. Zwar investiert er auch hier ausgesprochen viel Mühe auf ein ausgefeiltes visuelles Konzept und beweist mit massiv eingesetzten Zeitlupeneffekten, videoclipartigen Sequenzen und überstilisierten Bildern unbändigen Stilwillen. Im Kern aber geht es Nakashima um eine drastisch und zugleich leicht konsumierbare Kritik am seiner Meinung nach gescheiteren Erziehungssystem des modernen Japan.
Yuko Moriguchi weiß aus diesem Dilemma nur einen Ausweg: den der pädagogischen Rache. Die beiden Schüler sollen die drei Monate Wartezeit bis zum HIV-Test nutzen, über den Wert des Lebens nachzudenken.
Inzwischen kennen die Zuschauer allerdings auch das Schicksal der Lehrerin: Ihre Tochter entstammt einer Beziehung mit einem Mann, der sich im Ausland mit HIV infiziert hatte. Eine Heirat kam aus Vernunftgründen nicht zustande. Das
Paar entschied, dass Yuko Moriguchi lieber als alleinerziehende Mutter durchs Leben gehen solle, als sich und das Kind der gesellschaftlichen Ausgrenzung auszusetzen, die eine Familie mit einem HIV-positiven Vater zu befürchten
hätte.
Das sonst so fortschrittliche Japan ist in Bezug auf HIV Entwicklungsland
Die sich sonst so fortschrittlich gebende japanische Gesellschaft, soviel macht Nakashima deutlich, ist in der Auseinandersetzung mit HIV und Aids ein Entwicklungsland.
Später wird Yuko Moriguchi ihren Racheplan gegenüber der Klasse als Fake auflösen und in einer aufklärerischen Rede die Infektionswege erläutern. Bluttropfen in der Milch gehören nun einmal nicht dazu. Für Naoki und Shuya kommt diese Enthüllung allerdings zu spät. Der Racheplan hat sich längst verselbstständigt und ist für sie unkontrollierbar
geworden.
In Japan war „Geständnisse – Confessions“ 2010 ein vielfach ausgezeichneter und auch an der Kinokasse sehr erfolgreicher Film und wurde schließlich auch als japanischer Kandidat ins Rennen um den Auslands-Oscar geschickt. Die Reaktionen in Deutschland dürften spannend werden. Die bemerkenswerte Optik und Thriller-Dramaturgie wie auch die durchweg beeindruckenden schauspielerischen Leistungen machen „Bekenntnisse – Confessions“ zweifellos zu einem spannenden Kinostück. Doch so einfach wird man Nakashimas düsteren, zynischen Blick auf die japanische Gesellschaft nicht los. Zu komplex und drängend sind die moralischen und gesellschaftspolitischen Fragen, die er mit seiner Sozialapokalypse aufwirft, als dass sie allzu schnell beiseite gefegt werden könnten.
(Axel Schock)
Jetzt im Kino: “Geständnisse – Confessions” (Kokuhaku), Psychothriller, Japan 2010, 106 Minuten, FSK: ab 16, Regie: Tetsuya Nakashima; Darsteller: Takako Matsu, Yoshino Kimura, Masaki Okada, Yukito Nishii, Kaoru Fujiwara u. a.).