Am 15. August 1971, also vor 40 Jahren, trafen sich im Berliner Kino Arsenal schwule Männer, um über Möglichkeiten zur Veränderung ihrer Lage zu diskutieren – die Keimzelle der späteren „Homosexuellen Aktion Westberlin“. Egmont Fassbinder war von Beginn an dabei und lässt uns mit folgendem Text an den Anfängen der zweiten deutschen Schwulenbewegung teilhaben:
Als Rosas Film [„Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt“; d. Red.] auf der „Berlinale“ im Rahmen des „internationalen forums des jungen films“ am 5. Juli 1971 uraufgeführt wurde – damals war die Berlinale noch im Sommer – und bei den anschließenden Wiederholungen gab es tatsächlich Diskussionen über den Film und die Situation der Homosexuellen in Deutschland, bei denen wild argumentiert wurde und Rosa von Homosexuellen mit Schaum vorm Mund „Nestbeschmutzung“ vorgeworfen wurde. Nach jeder Vorführung wurden Zettel herumgereicht, auf die sich Leute eintrugen, die später weiter diskutieren wollten. Nach den Filmfestspielen schickte Alf Bold († 1995) an alle Interessenten Einladungen, und am 15. August 1971 trafen sich im Schöneberger Kino „Arsenal“ viele Homosexuelle, um stundenlang zu erörtern, was sie zur Verbesserung ihrer Lage tun könnten. Mit einem Mal war das natürlich nicht getan.
Vom Transvestitenlokal über den Jugendtreff zum Bioladen
In der ersten Zeit trafen wir uns vierzehntäglich im „Arsenal“, und weil so ein Kinosaal für Gruppengespräche ziemlich ungeeignet ist, suchten wir einen Raum und fanden ihn im „Hand-Drugstore“, einem Treffpunkt für Jugendliche in der Motzstraße (ich meine, es war in dem Haus, in dem sich das weltberühmte Transvestitenlokal „Eldorado“ in den 20er Jahren befand [wie sich die Zeiten ändern: heute ist da ein Bioladen; E. F.]). Dort trafen wir uns jeden Sonntag und diskutierten ein Positionspapier, die „Grundsatzerklärung“ für die Schwulengruppe, die am 7. November verabschiedet wird und in der u. a. stand, dass wir die Emanzipation der Homosexuellen nur an der Seite der Arbeiterklasse erreichen können.
Die Gruppe bekam nach einer weiteren langen Diskussion den Namen „Homosexuelle Aktion Westberlin“ (HAW). Die HAW wuchs kontinuierlich und wurde eine vorwiegend studentische linke Schwulengruppe. Rosa von Praunheim stellte ihr einen Teil seiner Atelier-Räume in einem Abriss-Haus in der Dennewitzstraße als „Zentrum“ zur Verfügung, und Mitglieder der HAW begleiteten seinen Film durch die BRD, halfen, die Diskussionen in Gang zu bringen. Und es entstanden in vielen größeren Städten Schwulengruppen. Im „Zentrum“ der HAW wurde weiterhin ausgiebig diskutiert, aber es wurde auch probiert, eine alternative schwule Szene zu etablieren. Auf unseren „offenen Abenden“ konnten neue Leute mit der Gruppe in Kontakt kommen, mit uns warm werden und sich integrieren.
Interview mit dem SPIEGEL – und Blumen aus dem vierten Stock
Am 1. Mai 1972 gingen wir zum ersten Mal als „schwuler Block“ auf die Mai-Demonstration der Gewerkschaften. Zu Pfingsten 1972 luden wir die Gruppen, die sich in den anderen Städten gebildet hatten, zum „Pfingsttreffen“ in die Dennewitzstraße. „Der Spiegel“ kam zum Interview, und als wir uns zum Photo-Termin im Hinterhof aufstellten, warf ein Anwohner einen Blumentopf aus dem IV. Stock – gottlob traf er keinen. Die Diskussionen mit den anderen über die politischen Strategien der Homosexuellenbewegung und die Notwendigkeit von „Selbsterfahrungsgruppen“ als Voraussetzung dafür waren sehr interessant, natürlich gab es auch eine tolle Fete, und die HAW wurde langsam bekannt.
Am 1. Mai 1973 bilden circa 150 Schwule und Lesben einen Block auf der Maidemonstration mit dem Spruch „Homosexuell – ob ja ob nein – im Klassenkampf heißt’s solidarisch sein“. Und weil unser Spruch so lang ist, tragen wir ihn nicht quer zur Straße wie alle anderen Gruppen ihre Spruchbänder tragen, sondern längs. Weil wir immer mehr wurden und alles ja immer größer und schöner werden muss, planten wir ein riesiges „Pfingsttreffen“ unter dem Motto „Die Unterdrückung der Homosexualität ist nur ein Spezialfall der allgemeinen Sexualunterdrückung“ mit Info-Ständen, Kiss-ins und einer Demonstration auf dem Kurfürstendamm. Inzwischen hatten sich uns auch Lesben angeschlossen, die spätere HAW-Frauengruppe.
Zum „Pfingsttreffen 1973“ kamen mehr als fünfhundert Homosexuelle aus der Bundesrepublik und dem Ausland zusammen und demonstrierten (teilweise aus Angst vor Berufsverboten, teilweise, um die Normalität dieser Angst darzustellen, unter Kapuzen getarnt, auf denen „Lehrer“, „Richter“ oder „Pfarrer“ stand). Die Leute auf dem Ku’damm reagierten verwundert und verärgert. Das hatte Berlin noch nicht gesehen: eine Demonstration von Schwulen. Aber auch aus den eigenen Reihen gab es Kritik. Vor allem ein paar Schwule aus romanischen Ländern fanden unsere „traditionelle“ Art zu demonstrieren lächerlich und zogen in preußischem Stechschritt neben uns her, karikierten uns und skandierten: „Wir wollen einen rosa Volkswagen!“
Bei der Abschlusskundgebung auf dem Wittenbergplatz sprachen Volker und Edeltraut, alles schien wieder o.k. Aber am Abend gab es in der Dennewitzstraße eine wilde Diskussion über unser „unschwules“ Verhalten, unsere Anbiederung an die linken Männer der Studentenbewegung. Der „Tuntenstreit“ beginnt, der die dogmatischen und undogmatischen HAW-Männer in einen „feministischen“ und einen gewerkschaftlich orientierten Block spaltet, von letzterem treten viele aus der HAW aus und gehen zur als bürgerlich verschrieenen „aha“ (allgemeine homosexuelle Arbeitsgemeinschaft). In der „BILD“-Zeitung standen am Pfingstsonntag über unsere Demonstration nur sechs dürftige Zeilen unter der Überschrift „Marsch der Lidschatten“. Die Öffentlichkeit hat unser Anliegen kaum zur Kenntnis genommen, aber für uns war es ganz wichtig, dass wir endlich aus dem Schatten getreten waren.
Die BILD titelte: „Marsch der Lidschatten“
Als wir endgültig aus der Dennewitzstraße raus mussten, mieteten wir neue Räume in einem Fabrikgebäude in der Kulmer Straße 20 a, 3. Hof, II. und IV. Stock. Die untere Etage bekam die „HAW-Frauengruppe“, oben waren die „Männer“. Der Ausbau der Etage für unsere Zwecke kostete ungeheuer viel Zeit, Geld und Kraft und trug mit den nötigen und überflüssigen Auseinandersetzungen auch dazu bei, unseren Zusammenhalt zu schädigen. Ein Spruch aus dieser Zeit: „Es gibt viel zu tun, warten wir es ab!“ Die Frauen kehrten uns den Rücken und bildeten das lesbische Aktionszentrum LAZ, und der Rest der HAW zerfiel in Grüppchen, Freundeskreise und Fraktionen, die kaum mehr zur Zusammenarbeit fähig waren. Aber selbst die Splitter der HAW haben auf lange Sicht viel dazu beigetragen, dass schwules Leben lebenswerter und problemloser geworden ist.
Aus: Egmont Fassbinder: „Mein schönes ‚schwules‘ Schöneberg“; in: „Berlin-Schöneberg. Blicke ins Quartier 1949–2000“, Jaron-Verlag, Berlin 2001, S. 153–160
Egmont Fassbinder: Zwei oder drei Dinge, die ich über mich weiß
Geboren bin ich am 26. Juli 1945 im badischen Kippenheim bei Lahr.
Eingeschult wurde ich in Köln, das Gymnasium habe ich weitgehend in Heidelberg durchlaufen, Abitur habe ich in West-Berlin gemacht, studiert habe ich Sozialwissenschaften in Heidelberg und West-Berlin.
1966 bin ich Mitglied im Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) geworden, ab 1967 habe ich Studentenpolitik im Studentenparlament der FU Berlin gemacht und mich an Demonstrationen vor allem gegen die Vietnam-Politik der USA beteiligt.
1971 Gründungsmitglied der Homosexuellen Aktion Westberlin und Aktivist, später in zahllosen Aktivitäten der Schwulenbewegung, u.a. „Sternaktion: Wir sind schwul“, viele Jahre war ich Vorsitzende im Trägerverein des SchwulenZentrums (SchwuZ).
Ab 1978 habe ich im Verlag rosa Winkel mitgearbeitet.
Auf HOMOLULU in Frankfurt 1979 habe ich die Rede mit den Forderungen an die deutsche Öffentlichkeit gehalten.
1998 habe ich in Osnabrück die „Rosa Courage“ verliehen bekommen. „Gärtner in der schwulen Kulturlandschaft“ hat Wolfram Setz mich in seiner Laudatio genannt.
Mein Ziel war stets die Emanzipation der Schwulen: Den Homosexuellen ein Bewusstsein für ihre Geschichte und ihre Situation zu geben, ihnen die Angst zu nehmen und identitätsstiftend zu wirken.
Schaut man sich heute um, kann man sagen: Hat doch geklappt. Schwule sieht man überall.
Noch immer trage ich meinen „Rosa Winkel“, den wir 1974 zum Symbol für „Schwule in Bewegung“ gemacht haben und der dann weltweit übernommen worden ist.
2006 ist mein Lebensgefährte Johann-Heinrich an AIDS gestorben. Seitdem bin ich wieder Single.
Ich habe unverschämtes Glück gehabt: Ich lebe noch.