Wenn der Störfall zum Normalfall wird

Rotes Rathaus

Rotes Rathaus Berlin (Foto: pat_555/pixelio.de)

Im Rahmen der Konferenz „HIV im Dialog“ gab es am 26. August 2011 im Berliner Roten Rathaus eine Podiumsdiskussion mit dem Titel „Zwischen Risikobereitschaft und Sicherheitsgesellschaft – wenn der Störfall zum Normalfall wird“. Auf dem Prüfstand stand dabei nicht weniger als die „Kondomisierung einer ganzen Generation“, berichtet Werner Bock:

Im Januar 2008 machte die Schweizer Eidgenössische Kommission für AIDS-Fragen (EKAF) „amtlich“, was unter der Hand schon länger bekannt war: „HIV-infizierte Menschen ohne andere STD (sexually transmitted diseases = sexuell übertragbare Krankheiten, d. Red.) sind unter wirksamer antiretroviraler Therapie sexuell nicht infektiös.” Michael Jähme, Mitarbeiter der Aidshilfe Wuppertal und seit vielen Jahren HIV-positiv, erinnert sich: „Für mich persönlich war das eine Rehabilitation. Durch das EKAF-Statement hat sich mein Selbstbild verändert. Bis dahin hatte ich verinnerlicht, dass von mir Gefahr ausgeht.“

Doch nicht jedem war nach Feiern zumute, erzählt Bernd Aretz, wie Michael langjähriger Aids-Aktivist: „Ich war entsetzt zu sehen, was stattdessen passierte. Bei jeder anderen Krankheit hätte man sich über so eine Verbesserung gefreut, aber bei HIV wurden die neuen Informationen als beängstigend wahrgenommen. Bei vielen Aidshilfen und anderen Präventionsorganisationen war man in Sorge, dass dieses neue Wissen zu einem massiven Einbruch der Kondomnutzung führt. ‚Da hat doch keiner mehr Angst‘, war von manchen Präventionisten zu hören.“

„Da hat doch keiner mehr Angst”

Warum aber standen bei der Diskussion um „EKAF“ die vermeintlichen „Gefahren“ dieser Verlautbarung im Mittelpunkt und nicht die Entlastung, die „Ungefährlichkeit“ von gut behandelten Menschen mit HIV? Der Kulturwissenschaftler Stefan Etgeton versucht, hier Licht ins Dunkel zu bringen: „In den Anfangszeiten von Aids war das Motto: Handle so, als wärst du positiv, und praktiziere Safer Sex. Die Kondomisierung einer ganzen Generation begann: Kondome schützen, war die Botschaft, und im Umkehrschluss war das Weglassen von Kondomen eine Gefahr. Das hat sich über die Jahre in die Köpfe eingebrannt.“

Auch bei der Deutschen AIDS-Hilfe gab es lange und lebhafte Diskussionen, bevor sie in ihrem Positionspapier vom April 2009 zu dem Schluss kam: Sowohl die konsequente Anwendung von Kondomen als auch die dauerhafte Senkung der Viruslast beim positiven Partner – bei Abwesenheit von Schleimhautdefekten, zum Beispiel als Folge sexuell übertragbarer Infektionen, bei beiden Partnern – bietet eine ausreichende Sicherheit zur Vermeidung einer HIV-Infektion.

„Man wird mit der eigenen Endlichkeit konfrontiert“

Diese Position ist seit dem Mai 2011 durch eine große Studie endgültig wissenschaftlich belegt. In den Köpfen der meisten Menschen ist das aber noch nicht angekommen: Auch heute noch gibt es mitunter Panik, wenn sich ein Sexpartner im Nachhinein als HIV-positiv outet – selbst wenn Safer Sex praktiziert wurde oder die Viruslast des Positiven unter der Nachweisgrenze liegt, es also objektiv nur ein vernachlässigbares Restrisiko gab. Einen Erklärungsversuch liefert der Sexualwissenschaftler Martin Dannecker: „Man wird mit der eigenen Verletzlichkeit und der eigenen Endlichkeit konfrontiert.“

Auf dem Podium ist man sich einig: Bis der „Störfall“, als den manche Negative oder Ungetestete den Sex mit HIV-Positiven erleben, zum Normalfall wird, muss noch ein weiter Weg zurückgelegt werden. Umso wichtiger ist es, dass man diesen Weg geht und dass eine solche Diskussion bei einem Kongress im Herzen Berlins stattfindet. Die Stärke von „HIV im Dialog“ liegt dabei in der starken Beteiligung von Menschen mit HIV: Die Partizipation von Positiven, von der oft nur geredet wird, wird hier auf allen Ebenen der Vorbereitung und Durchführung umgesetzt. Das sollte auch bei anderen Veranstaltungen der Normalfall werden.

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