Die ehrenamtliche Mitarbeit ist im Umbruch

Rote Schleife

Die Rote Schleife – Symbol für die Solidarität mit HIV-Positiven und Aidskranken

Seit über zehn Jahren arbeitet die Erziehungswissenschaftlerin und Sozialmanagerin Anette Lahn für die Berliner Aids-Hilfe. Zu ihren Hauptaufgaben gehört dort heute die Anwerbung, Ausbildung und Koordination der ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Axel Schock unterhielt sich mit ihr über die Veränderungen in der ehrenamtlichen Tätigkeit und Perspektiven für die Aidshilfe-Arbeit.

Wie viele Menschen sind derzeit ehrenamtlich in der Berliner Aids-Hilfe tätig?

Rund 260, wobei wir hier beispielsweise auch die 40 Kuratoren hinzuzählen, die Lobbyarbeit oder Fundraising für uns betreiben; oder auch Künstler, die einen festen Bezug zur Aids-Hilfe habe und uns regelmäßig beispielsweise mit Benefizkonzerten unterstützen. Ehrenamtler im klassischen Sinne, die im operativen Geschäft wöchentlich mit etwa zwei bis vier Stunden im Einsatz sind, gibt es derzeit 220. Hinzu kommen übers Jahr noch einmal rund 300 Menschen, die uns etwa beim Welt-Aids-Tag unterstützen. Diese haben auch alle die medizinische Grundausbildung durchlaufen und eine Schweigeverpflichtungserklärung unterschrieben.

Eine solche Mitarbeiterzahl entspricht schon einem respektablen mittelständischen Unternehmen. Kleine oder mittlere Aidshilfen werden da sicherlich neidisch nach Berlin blicken …

Man darf nicht vergessen, wie groß diese Zahl tatsächlich proportional zu den 3,4 Millionen Einwohnern und den vielen HIV-positiven Menschen in der Stadt ist. In Hildesheim entsprechen vielleicht 20 ehrenamtliche Helfer dem, was für Berlin 200 sind. Mit ausschlaggebend ist der hohe Bevölkerungsanteil schwuler Männer. Natürlich fühlen sich Menschen mit gleichgeschlechtlichen Lebensweisen diesem Thema näher und engagieren sich eher bei einer Aidshilfe als beim BUND oder bei Greenpeace.

Ist die Berliner Aids-Hilfe also in der glücklichen Lage, stets über ausreichend Ehrenamtliche zu verfügen?

Wir dürfen nicht vergessen, dass viele Menschen letztlich auch gerade wegen ihrer HIV-Infektion, wegen ihrer Homosexualität oder aus vergleichbaren Gründen nach Berlin ziehen und hier, wenn sie Hilfe benötigen, nicht automatisch auf ein soziales Netzwerk zurückgreifen können. Wir brauchen, gerade in einer Stadt wie Berlin, ein anderes Hilfesystem. Entsprechend hoch ist der Bedarf. Abgesehen davon kann es nie genügend Ehrenamtler geben, denn es gibt noch tausend Möglichkeiten, wie die Unterstützung der Menschen verbessert werden könnte.

Wir brauchen ein anderes Hilfesystem

Was bringt die Menschen dazu, sich ehrenamtlich zu engagieren? Ist es tatsächlich vor allem die Ehre, wie es der etwas altertümliche Begriff nahelegt?

Das ist eine schwierige Frage. Das Mitgefühl für Menschen, der Wunsch, anderen etwas Gutes zu tun, das ist sicherlich bei allen der wesentliche Antrieb und wird dann individuell von anderen Gefühlen und Motiven überlagert. Die Palette ist breit. Es gibt sicherlich weiterhin zahlreiche Menschen, für die HIV immer noch viel mit Diskriminierung zu tun hat und die sich deshalb gesellschaftlich für sie einsetzen. Andere sehen die Mitarbeit bei uns als Baustein in ihrer beruflichen Planung. Für viele HIV-positive Ehrenamtler dürfte wiederum ein Beweggrund sein, die eigenen beruflichen Kompetenzen nicht versanden zu lassen und eine neue Aufgabe zu bekommen. Für manche ist das Ehrenamt sicherlich auch ein Ersatz für die eigentliche Arbeit, die aus den unterschiedlichsten Gründen nicht mehr zu Verfügung steht, zum Beispiele weil sie sich vielleicht in einer schwierigen Phase der Krankheit haben berenten lassen. Das gesellschaftliche Engagement kann so auch eine sinnstiftende Rolle im Leben einnehmen. Denn man sollte nicht vergessen: Die ehrenamtliche Tätigkeit ist nicht nur eine Solidaritätsbekundung, sondern tatsächlich auch eine Form der Arbeit. All das fließt ins Ehrenamt ein, je nach persönlicher Lebenslage in unterschiedlicher Gewichtung.

Anette Lahn von der Berliner Aids-Hilfe

Anette Lahn ist die Ehrenamts-Koordinatorin der Berliner Aids-Hilfe

Ist es schwerer geworden, Menschen zur Mitarbeit zu gewinnen?

Auffällig ist, dass zunehmend mehr positive Männer mitarbeiten. Als ich vor zehn Jahren hier anfing, war der Anteil von Frauen größer – in manchen Teams lag er bei über 70 Prozent. Das hat sich völlig umgekehrt. Der Anteil von selbst betroffenen Männern unter unseren Ehrenamtlern steigt weiter rasant an. Ich leite einmal monatlich Infoabende für Interessierte, und an manchen dieser Einführungsveranstaltungen sitze sich ausschließlich vor schwulen Männern. Das ist eine völlig neue Erfahrung für mich.

Wie erklärst du dir das?

Das hängt damit zusammen, dass die stigmatisierenden und diskriminierenden Aspekte der Krankheit in der öffentlichen Wahrnehmung nicht mehr so präsent sind. Ich glaube auch beobachten zu können, dass Frauen, wenn sie sich sozial engagieren, sich zunehmend Projekte und Aufgaben suchen, mit denen sie sich mehr auch selbst etwas Gutes tun.
Dass der Anteil der Schwulen gewachsen ist, ist ganz sicher aber auch ein spezielles Berliner Phänomen. Es ziehen viele Männer mit HIV in die Stadt, die bereits staatliche Transferleistungen beziehen. Das schlägt sich deutlich auf die Ehrenamtler nieder: Eine Vielzahl ist neu in der Stadt, selbst HIV-positiv und ohne Erwerbsarbeit.

Sie suchen hier also eine Heimat?

Für sie ist die Mitarbeit in der Aidshilfe eine Aufgabe, aber in der Tat auch eine soziale Verankerung.

Finden sich für bestimmte Aufgabenbereiche leichter freiwillige Helfer als für andere? Ist beispielsweise die Sammelaktion am Welt-Aids-Tag gefragter als der Knastbesuch bei einem Drogengebraucher?

Bestimmte Bereiche sind in der Tat schwieriger geworden, so zum Beispiel das Buddy-Projekt, also die emotionale Begleitung von bereits schwer Erkrankten. Diese Aufgabe scheint für die Menschen inzwischen zu groß zu sein. Eine solche Betreuung kann über zwei oder drei Jahre gehen. Eine zeitlich wie emotional so enge und feste Bindung können und wollen viele nicht mehr eingehen, sondern ihr Engagement lieber offener gestalten. Knastbesuche sind im Gegensatz dazu gar nicht so unbeliebt.

Emotionale Begleitung von Schwerkranken scheint inzwischen zu groß zu sein

Weil es die natürliche Distanz der Gefängnismauer gibt? 

Ich denke, das ist einer der Gründe, aber auch die Vorstellung, dass es hier um einen Menschen geht, der mir unglaublich dankbar ist, weil es sonst niemanden in seinem Leben gibt, der ihn besucht. Die Betreuung eines Gefängnisinsassen kann ebenfalls eine sehr intensive Erfahrung sein, aber ich muss nicht selbst die Grenze ziehen. Das erledigt die besondere Knastsituation. Sammelaktionen hingegen werden immer schwieriger. Die Spendenbereitschaft auf der Straße lässt zunehmend nach. Lange Zeit war das Spendensammeln auch eine Möglichkeit, der Gesellschaft den Spiegel vorzuhalten und ihr zu zeigen, dass sie nicht solidarisch ist. Inzwischen hat sich die gesellschaftliche Wahrnehmung von HIV und Aids verbessert.

Die Sammelbüchse der Aids-Hilfe ist heute ist eine unter vielen und konkurriert im Zweifelsfalle mit denen für Tsunami-Opfer oder für „Brot für die Welt“.

Exakt. Menschen mit HIV und Aids sterben auch nicht mehr so öffentlich wie noch vor zehn Jahren. Ihre Bedürftigkeit ist für die breitere Öffentlichkeit nicht mehr so erkennbar. Sammeln wollen überraschender Weise vor allem sehr junge Leute, Schülerinnen und Schüler.

Weil das für sie ein neues, aufregendes Erlebnis ist? 

Oder weil sie noch stärker das Bedürfnis haben, auf diese Weise zu helfen.

Quadriga

Viele HIV-Positive ziehen nach Berlin – und engagieren sich hier ehrenamtlich (Foto: Carl-Ernst Stahnke/pixelio.de)

Ist mit den Jahren auch die Fluktuation gestiegen? 

Interessanterweise hat sich das nicht verändert. In Aidshilfen bleiben ehrenamtliche Helfer vergleichsweise länger als in anderen Projekten. Im Schnitt sind es bei uns um die vier Jahre.

Welche Folgen haben diese Veränderungen für dich in der Organisation der Ehrenämter, wenn sich beispielsweise keine neuen Buddies finden? 

Wir können uns natürlich Menschen wünschen, die sich auf ideale Weise in einer bestimmten Form und in einem entsprechendem zeitlichen Umfang ehrenamtlich einbringen. Aber es wäre fatal, vielleicht vergeblich auf sie zu warten und deshalb die Projekte ganz einzustellen, wie es in einigen Aidshilfen bereits geschehen ist. Wir müssen uns viel mehr überlegen, wie wir die Aufgaben vielleicht anders organisieren.

Wie kann dies konkret aussehen?

Ich denke, wir müssen uns darauf einstellen und damit abfinden, dass es zunehmend einen Mix aus Unterstützungen für die Betroffenen geben wird. Sie leben beispielsweise in einem Aids-Wohnprojekt, haben einen rechtlichen Betreuer, und einmal die Woche kommt zusätzlich noch jemand ehrenamtlich mit dazu. Es wird ganz sicher immer jemand zu finden sein, der einen Erkrankten mal zum Arzt begleitet oder für ihn einkaufen geht. Ob sich diese zusammengestückelten Hilfesysteme dann tatsächlich auch so organisieren lassen, wird erst die Praxis zeigen.

Worauf sollten die Aidshilfen achten, um das Ehrenamt attraktiv zu machen?

Ich beobachte in vielen Aidshilfen, dass einigen wenigen Ehrenamtlern viel zu viele Aufgaben aufgebürdet werden und sie deshalb oft nah an der Überlastung sind. Dieses Problem betrifft sicherlich insbesondere kleinere Aidshilfen, bei denen Ehrenamtler bisweilen sämtliche Aufgaben erledigen müssen – von der Verwaltung und Prävention bis hin zur Öffentlichkeitsarbeit. Als Neuer mag man hier sicherlich nicht gerne einsteigen. Wir in der Berliner Aids-Hilfe haben die klare Formel: kein Ehrenamt ohne Hauptamt. Jedes Ehrenamt muss durch ein Hauptamt unterstützt, gecoacht und auch gestärkt werden. Dadurch kann auch gewährleistet werden, dass die Menschen Freude an ihrer Arbeit haben und sie nicht überfordert werden.

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