Von Positiven für Positive: Julian Hows von der internationalen Selbsthilfeorganisation GNP+ ist einer der internationalen Koordinatoren des Projekts „Stigma-Index“, das in Deutschland unter dem Titel „positive stimmen“ durchgeführt wird. Kim Winkler sprach mit ihm über Stigmatisierung, die Rolle der Community und Hilfe zur Selbsthilfe
Julian, seit einigen Jahren wird viel darüber gesprochen, dass die HIV-Infektion zu einer „normalen“ chronischen Krankheit geworden sei. Wozu brauchen wir heute noch einen „Stigma-Index“?
Es stimmt: Die meisten Menschen wissen heute, dass man sich nicht beim Küssen oder alltäglichen Kontakten infizieren kann. Wenn sie dann aber tatsächlich auf eine HIV-positive Person treffen, tut sich oft ein großer Graben auf. Mit anderen Worten: Es gibt einen Unterschied zwischen Wissen und der Umsetzung in der Praxis. HIV-positiv zu sein ist völlig in Ordnung, aber will ich, dass meine Schwester oder dein Bruder einen Menschen mit HIV heiratet? Das sollte sich jeder einmal selbst fragen.
Ist es schwieriger geworden, Stigmatisierung und Ausgrenzung dingfest zu machen?
Trotz „liberaler“ Weltbilder und der verfügbaren Medikamente finden Stigmatisierung und Diskriminierung auch in der so genannten industrialisierten Welt immer noch statt – aber sehr viel mehr in unterschwelligen Formen. Die Rechte von Menschen mit HIV sind ja teilweise sogar gesetzlich geschützt zum Beispiel beim Zugang zu Gesundheit, Arbeit oder Bildung. Aber damit verändert sich eben nicht automatisch, wie über Positive gedacht wird. Ein anderes Beispiel: Überall in Europa werden junge schwule Männer in ihren Schulen gemobbt. Das hängt auch damit zusammen, dass schwule Männer immer noch stark mit HIV/Aids in Verbindung gebracht werden.
Was bedeutet es, stigmatisiert zu werden?
Genauso, wie schwule Männer in vielen Teilen der Welt an den gesellschaftlichen Rand gedrängt werden, bekommen wir als HIV-Positive manchmal das Gefühl vermittelt, minderwertige Menschen zu sein. Das kann Einflüsse auf unser Selbstwertgefühl haben und damit darauf, wie wir uns um uns selbst und unsere Gesundheit kümmern. Zugleich haben Menschen mit HIV oft eben doch noch nicht den gleichen Zugang zu Gesundheitssystemen, Informationen und Unterstützung wie andere. Die meisten von uns sind bereits Teil einer Minderheit und tragen an der gesellschaftlichen Bürde, die damit einhergeht. Es ist wirklich nicht leicht zu sagen: „Ich bin nicht nur schwul, sondern auch HIV-positiv.“
Wo setzt ihr mit dem Stigma-Index an?
Wir fragen nach Stigmatisierungserfahrungen. Neben der tatsächlichen Stigmatisierung geht es dabei auch um die Frage, ob und wie Menschen sie erleben. Die persönliche Wahrnehmung hat einen erheblichen Einfluss darauf, ob du ein positives und gutes Leben führen kannst. Ein Beispiel: Es geht nicht nur darum, ob Sozialarbeitende alle HIV-Positive genauso behandeln wie andere Menschen, sondern ob die Positiven auch das Gefühl haben, gleich behandelt zu werden. Es kommt immer wieder vor, dass Menschen mit HIV den Eindruck gewinnen, ihre Patientenakten würden nicht vertraulich behandelt. Andere glauben, dass man hinter ihrem Rücken über sie redet oder dass andere Patientinnen und Patienten bevorzugt behandelt werden.
Wie könnt ihr da helfen?
Zum einen machen wir die Diskriminierungserfahrungen durch den Index sichtbar und tragen die Ergebnisse in die Öffentlichkeit. Zum anderen überprüfen wir, inwieweit die Menschen ihre Rechte als HIV-Positive überhaupt kennen – und klären sie darüber auf. Empowerment, also die Hilfe zu Selbsthilfe, ist integraler Bestandteil des Projekts.
Das ist ungewöhnlich: Ein Projekt, das den Befragten etwas mit auf den Weg geben will.
Es ist keine normale Studie. Die interviewte Person wird nicht als „Forschungsobjekt“ betrachtet. Anders als bei klassischer Forschung, setzen wir uns mit den Befragten zusammen, und unterhalten uns anderthalb Stunden darüber, wie der andere Mensch sich fühlt, was andere über ihn denken oder denken könnten. Vielleicht erzählt die Person von konkreten Situationen, in denen sie diskriminiert wurde. Mit solchen Erinnerungen im Kopf kann man Menschen natürlich nicht alleine lassen – da haben wir Verantwortung. Wir schlagen den Leuten Möglichkeiten vor, wie sie mit der Diskriminierungserfahrung umgehen können oder vermitteln Unterstützung.
Was gebt ihr den Leuten an die Hand?
Im Wesentlichen drei Dinge: Erstens: Informationen. Zweitens: Ratschläge im Sinne von „Du bist nicht alleine und kannst folgendes tun: a), b) oder c) “, wobei wir auch an beratende Organisationen oder Initiativen weitervermitteln. Und drittens: Die Ergebnisse aus den Gesprächen werden in die Communities zurückgetragen, so dass die Menschen die Möglichkeit haben, noch einmal in sich zu gehen und zu sehen, was sie trotz Stigmatisierung und Diskriminierung auf die Beine gestellt haben.
Die Interviewerinnen und Interviewer sind selbst HIV-positiv. Erleichtert dies den Befragten, über ihre Erfahrungen zu sprechen?
Ja, das tut es! Es vermittelt uns das Gefühl, dass dieses Projekt und damit auch die Befragung von uns und nicht mit uns gemacht wird. Das Projekt ist partizipativ, das heißt es wird von Befragenden und Befragten gemeinsam gestaltet. Das Projekt und der Fragebogen wurden von HIV-Positiven auf der ganzen Welt ausgearbeitet, um sicherzustellen, dass alles enthalten ist, was in verschiedenen Ländern wichtig.
Was gibst du dem deutschen Team zum Beginn von positive stimmen mit auf den Weg?
Wir sagen allen nationalen Teams, dass die Umsetzung der Umfrage genauso wichtig ist wie das Ergebnis. Der Stigma-Index wird für Diskussionen sorgen: Was ist der weiterführende Dialog, den wir innerhalb unserer Positiven-Community brauchen? Wie fühlen wir uns und wie gehen wir mit uns selbst um? Wie gehen wir mit anderen Positiven um und welche Wünsche haben wir an die anderen bezüglich des Umgangs mit uns? Daraus können weiterführende Fragen entwickelt werden: Wie können wir von unseren Gesundheitsversorgern bekommen, was uns zusteht? Mit welchen Strategien können wir reagieren, wenn Leute hinter unserem Rücken über uns sprechen?
Es geht also um beides: Die persönliche Umgangsweise und politische Forderungen.
Natürlich! Wichtiger als eine Einkaufliste von Forderungen nach Leitlinien und Gesetzen ist dabei vielleicht manchmal zu schauen, was einzelne Menschen brauchen, um wieder mehr Kontrolle über ihre eigenen Leben zurückzugewinnen. Damit wieder mehr und mehr Menschen selbstbewusst zu sich stehen können und damit Veränderungen in der Welt schaffen. Ja, ich denke, es ist an der Zeit, diese Art von Aktivismus und Selbsthilfe wiederzubeleben!
Danke, Julian!
Interview und Übersetzung aus dem Englischen: Kim Winkler