Fast täglich erhalte ich Anfragen von Firmen, die mir Ihre Produkte vorstellen möchten, sei es in meiner Praxis oder für das Sportzentrum. Ich sehe mir auch vieles an. Manchmal sind da wirklich überzeugende Dinge dabei, manchmal aber auch Produkte die ich selbst sicher nicht nehmen wollen würde.
Aber wie entscheide ich das? Das möchte ich Ihnen gern erklären. Aus dieser hohen Anzahl habe ich mal ein Produkt herausgegriffen, nämlich „SanaTranquilact“ von der Firma SanaCare.
Vorweg muss ich sagen: Ich finde das Produkt durchaus interessant und würde es auch selbst nehmen aber – da gibt es für mich noch ein paar Ungereimtheiten, die es aufzuklären gilt…
Gehen wir doch einfach mal methodisch vor. Die erste Frage bei so einem Produkt ist für mich immer: Was ist das und was kann es?
Nun: Laut Firmenangaben soll SanaTranquilact in der Lage sein, beruhigend und angstnehmend zu wirken und den Schlaf zu verbessern.
Grundlage hierfür ist kein Barbiturat oder Benzodiazepin, sondern ein Milch-Peptid, das aus der Hydrolyse (Aufspaltung einer chemischen Verbindung durch Anlagerung eines Wassermoleküls H2O) von Casein gewonnen wird. Und so verspricht der Hersteller dann auch: „SanaTranquilact ist ganz natürlich und hat keinerlei Sekundäreffekte wie Gewöhnung, Gedächtniseinbußen und Gewichtszunahme.“
Das hört sich doch gut an. Das Produkt soll sogar einen guten Effekt bei Prüfungsangst zeigen. Ähnlich gute Wirkung wird auch bei Haustieren vermeldet, z.B. wenn Pferde oder Hunde bei Wettbewerben an den Start gehen.
Haben wir jetzt also den genialen Ersatz für die altbekannten chemischen Beruhigungsmittel auf natürlicher Basis? Und gibt es wirklich kein einziges, klitzekleines Nebenwirküngchen von diesem Casein-Abkömmling? Man darf gespannt sein, denn nun wenden wir uns einmal ab von der Welt des Marketings und seinen oft überzogenen Versprechungen, hin zu den Wissenschaften, die dieses Phänomen sicherlich begutachtet haben müssen. Schauen wir mal, ob auch die Wissenschaft diese natürliche Form der Anxiolyse (Verringerung von Angst durch Medikamente) und Schlafverbesserung bestätigen kann – oder auch nicht.
Beruhigung durch Casein, so ein Käse?
Widmen wir uns erst einmal der Frage, ob die Erkenntnis, dass Milch möglicherweise Substanzen enthält, die schlaffördernd und stressabbauend sind, jetzt eigentlich so neu ist. Die vorherrschende Meinung ist ja, dass der Vorgang des Stillens den Säugling müde macht und der Hautkontakt ein Gefühl der Sicherheit für den Säugling vermittelt. Das Zusammenwirken dieser Faktoren bewirkt dann den Schlaf des Säuglings, während die Milch lediglich der Nahrung dient. Von daher scheint die Hypothese vom Wirkstoff in der Muttermilch wirklich neu zu sein.
Milch ist natürlich schon vor langer Zeit analysiert worden und die meisten Inhaltsstoffe sind bekannt. Gerade die Muttermilch zeichnet sich durch einen ordentlichen Gehalt an Immunglobulinen (körpereigene Eiweißmoleküle) aus, die dem Säugling helfen, in den ersten 6 Monaten seines Lebens gegen Infektionen bestehen zu können. Aber auch bei der Schlafförderung steht die Milch von Alters her in dem Ruf, dass ein Glas davon vor dem Schlafengehen die Schlafqualität verbessert. Natürlich sind das „nur“ Volksweisheiten und keine wissenschaftlich belegte Gesetzmäßigkeiten. Über diese “Gesetzmäßigkeiten” berichte ich unter anderem ja auch im Report Schulmedizin – Einzig wahre Wissenschaft?
Vor mehr als 60 Jahren gab es schon Arbeiten zu diesem Thema (Laird, D. A. und Drexel, H. (1934) Experimenting with foods and sleep: I. Effects of varying types of foods in offsetting sleep disturbances caused by hunger pangs and gastric distress in children and adults. J. Am. Diet. Assoc. 10, 89–94): Es wurde in diesem Zusammenhang berichtet, dass Erwachsene eine verbesserte Tendenz für einen ununterbrochenen Schlaf zeigten, nachdem sie Haferflocken in Milch zu sich genommen hatten. Eine andere Forschergruppe, Brezinova und Oswald (Brezinova, V., and Oswald, I. (1972) Sleep after a bedtime beverage. Br. Med. J. 2, 431–433) benutzten die Elektroenzephalographie (EEG), mit der sie feststellten, dass der Schlaf älterer Leute signifikant länger und weniger oft unterbrochen ist, wenn diese zur Nachtzeit Cerealien mit Milch zu sich genommen haben. Die Milch zeigte bessere Effekte bei einem dauerhaften Gebrauch.
Ein anderer Aspekt, der zur Sprache kam, war die Rolle der Caseine, ein Proteinbestandteil der Milch. Mit etwa 80 Prozent aller in der Milch vorkommenden Proteine bilden die Caseine alphaS1, alphaS2, beta und kappa Casein den Löwenanteil. Sie gelangen nicht in die Molke. Und wie der Name schon vermuten lässt, sind die Caseine im Käse wiederzufinden.
Casein übernimmt eine Reihe von wichtigen Aufgaben für den Organismus des Säuglings: Es ist sein primärer Stickstofflieferant, bindet und transportiert Proteine, Calcium und Phosphat zum Neugeborenen hin etc. So gibt es eine Reihe von Arbeiten der letzten 15 Jahre, die zeigen konnten, dass die enzymatische Hydrolyse der Caseine Peptide produziert, welche die verschiedensten biologischen Aktivitäten ausüben (Meisel, H. (1997) Biochemical properties of regulatory peptides derived from milk proteins. Biopolymers 43, 119–128). Die Peptide, die gefunden wurden, hatten opioide und opioid-antagonistische Eigenschaften (opiumähnliche und opiumblockierende Wirkung). Dann gibt es auch noch Peptide, die wie ein ACE-Hemmer wirken, also blutdrucksenkend, und immunstimulierende Peptide, Platelettaggregationshemmer, antibakteriell wirksame Peptide, Proteaseinhibitorpeptide usw. Allerdings ist die physiologische Effizienz dieser Peptide nur spekulativ, da die meisten Eigenschaften von ihnen bei in vitro Experimenten beobachtet worden sind.
Auf der andere Seite gibt es opioide Peptide, die “in vivo” ausfindig gemacht werden konnten. So z.B. geschehen und gesehen im Zwölffingerdarm des Meerschweinchens nach Verzehr von Kuhmilch (Meisel, H. (1986) Chemical characterization and opioid activity of an exorphin isolated from in vivo digest of casein. FEBS Lett. 196, 223–227), im menschlichen Darm, ebenfalls nach dem Verzehr von Milch (Svedberg, J. et al. (1985) Demonstration of ?-casomorphins immunoreactive materials in in vitro digests of bovine milk and in small intestine contents after bovine milk ingestion in adults humans. Peptides 6, 825–830), im Serum von neugeborenen Kälbern nach der ersten Milchaufnahme (Umbach, M.. et al. (1985) Demonstration of a ?-casomorphin immunoreactive material in the plasma of newborn calves after milk intake. Regul. Pept. 12, 223–230) und im Plasma von schwangeren oder stillenden Müttern (Koch, G. et al. (1988) Human ?-casomorphin-8 immunoreactive materials in the plasma of women during pregnancy and after delivery. Regul. Pept. 20, 107–117).
“In vivo”-Aktivitäten konnten für die ACE-hemmende Wirkung eines Peptids bestätigt werden, da die orale Aufnahme von fermentierter Milch, die dieses Peptid schon enthielt, eine blutdrucksenkende Wirkung bei Ratten zeigte, die an einem genetisch bedingten Bluthochdruck litten (Yamamoto, N. et al. (1994) Antihypertensive effect of peptides derived from casein by an extracellular proteinase from Lactobacillus helveticus CP790. J. Dairy Sci. 77, 917-922).
Bei allem Wissen jedoch bleiben zu viele Fragen zur biologischen und physiologischen Wirksamkeit der vom Casein stammenden Peptide offen (Meisel, H., and Bockelmann, W. (1999) Bioactive peptides encrypted in milk proteins: proteolytic activation and thropho-functional properties. Antonie Van Leeuwenhoek 76, 207–215). Dies heißt in letzter Instanz, dass gerade das Wissen um eine mögliche sedierende Wirkung dieser Peptide mehr als spärlich ausfällt. Wie bereits oben angedeutet, gibt es Andeutungen in dieser Richtung aus dem Volksmund und der Volksweisheit.
Woher kommen Unruhe, Nervosität und Co. denn eigentlich?
Aus wissenschaftlicher Sicht spielt die Überlegung eine Rolle, dass Angst, Unruhe, Krampfanfälle etc. zum größten Teil, wenn nicht sogar vollständig, über eine Beeinflussung von GABA-Rezeptoren der Nervenzellen erfolgen muss. Denn wenn die GABA-Rezeptoren in ihrer Aktivität beeinträchtigt werden, führt dies zu Unruhezuständen, Krämpfen, Angst usw. (File, S. E. et al. (1982) The anxiogenic action of benzodiazepine antagonists. Neuropharmacology 21, 1033–1037 und Dorow, R. et al. (1983) Severe anxiety induced by FG 7142, a beta-carboline ligand for benzodiazepine receptors. Lancet 2, 98–99).
Auf der anderen Seite verstärken Benzodiazepine und Barbiturate die Aktivitäten der GABA-Rezeptoren und lösen somit eine anxiolytische und krampflösende Wirkung aus. Kurz: Der GABA-Rezeptorenkomplex spielt eine wichtige Rolle in der Pharmakologie, Neurochemie und Physiopathologie von Stress und Unruhe (Biggio, G. et al. (1990) GABAergic and dopaminergic transmission in the rat cerebral cortex: effect of stress, anxiolytic and anxiogenic drugs. Pharmacol. Ther. 48, 121–142). Darüber hinaus gibt es noch eine weitere Benzodiazepin-Bindungsstelle, die im mitochondrialen Bereich angesiedelt ist. Diese Stelle wird die „periphere Benzodiazepin-Bindungsstelle“ genannt, obwohl sie in allen Geweben präsent ist, einschließlich des zentralen Nervensystems.
Das neue Zauberwort: Casozepin
2001 veröffentlichte eine französische Forschergruppe aus der Universität Nancy eine Arbeit, die ein tryptisches Hydrolysat (Spaltung von Casein-Eiweißen mit Hilfe von Trypsin) des alphaS1-Caseins untersuchte (Miclo L. et al.: Characterization of alpha-casozepine, a tryptic peptide from bovine alpha(s1)-casein with benzodiazepine-like activity; Laboratoire des Biosciences de l’Aliment UA 885 INRA, Faculté des Sciences, Université Henri Poincaré-Nancy, Vandoeuvre-lès-Nancy, France;FASEB J. 2001 Aug;15(10):1780-2. http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/11481228).
Dieses Peptid hat im Organismus eine benzodiazepinähnliche Wirksamkeit. Dies konnte gezeigt werden, indem man epileptischen Ratten 3 Milligramm pro Kilogramm Körpergewicht der fraglichen Peptide injizierte. Die Folge der Injektion war eine Reduzierung der epileptischen Anfälle. Die Intensität der Angst- und Unruhezustände der Tiere wurde ebenfalls deutlich geringer.
Die aus dem Hydrolysat isolierten Peptide wurden zusätzlich auf ihre Affinität zu den GABA-Rezeptoren geprüft. Nur eines der Peptide zeigte eine signifikante Affinität zu diesem Rezeptor. Es handelt sich dabei um ein Fragment des alphaS1-Caseins und heißt alpha-Casozepin. Interessanterweise hatte dieses Peptid “in vitro” eine 10.000-fach geringere Affinität zum GABA-Rezeptor als Diazepam. Bei den Verhaltensversuchen mit den Tieren zur Beurteilung der anxiolytischen Wirkung des Peptids jedoch zeigte dieses Peptid eine 10-fach höhere Wirksamkeit als Diazepam. Man vermutete nun, dass der Unterschied in der Wirksamkeit zwischen „in vitro“- und „in vivo“-Bedingungen möglicherweise auf einem Effekt im peripheren Benzodiazepin-Rezeptor beruht. Dies konnte aber nicht bestätigt werden, da Casozepin keine Affinität zu diesem Rezeptor zeigen konnte.
Diese Beobachtungen sind auch aus einem anderen Blickwinkel interessant. Die Kluft zwischen Laborergebnissen (“in vitro”) und Wirkungen im lebenden System (“in vivo”) kann man bei dieser Arbeit besonders gut demonstrieren. In diesem Fall wäre die 10.000-fach höhere Affinität von Diazepam zum Zielrezeptor möglicherweise ein vorzeitiges „Todesurteil“ für das Casozepin gewesen. Denn nach einer so übermächtigen Signifikanz des Diazepams im Vergleich zum Casozepin kann nur ein hoffnungsloser Optimist an eine gleichwertige oder sogar noch bessere biologische Wirksamkeit glauben. Glücklicherweise hatten die Wissenschaftler die Verhaltensversuche vor der biochemischen Analyse vorgenommen. Eine umgekehrte Vorgehensweise hätte vielleicht den vorzeitigen Abbruch der Arbeit verursacht – vielleicht…
Mehr Casozepin
Genau 10 Jahre nach dieser Arbeit veröffentlicht fast die gleiche Forschergruppe von der Universität Nancy einen weiteren Artikel zu diesem Thema (Cakir-Kiefer C.: In vitro digestibility of ?-casozepine, a benzodiazepine-like peptide from bovine casein, and biological activity of its main proteolytic fragment; Unite de Recherche Animal & Fonctionnalités des Produits Animaux (UR AFPA), Équipe Protéolyse & Biofonctionnalités des Protéines et des Peptides (PB2P), Nancy-Université, Vandoeuvre-les-Nancy, France. J Agric Food Chem. 2011 May 11;59(9):4464-72. http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/21417274 ).
Leider ergeben sich hier keine neuen Perspektiven oder Erkenntnisse, da diese Arbeit sich damit begnügt, im Wesentlichen die Ergebnisse der Arbeit von vor 10 Jahren zu referieren, erweitert um die banale Aussage, dass die bei Ratten gesehenen Effekte wohl auch auf den Menschen übertragen werden können. Es erhebt sich da natürlich die Frage, warum die Forscher, nach den recht ansehnlichen Ergebnissen der 2001-Studie, nicht an diesem Thema weitergearbeitet hatten.
Es erhebt sich auch die Frage, warum in diesem sehr interessanten Bereich nicht mehr Arbeiten an menschlichen Probanden durchgeführt worden sind. Denn mit unüberschaubaren Nebenwirkungen, die für neue Substanzen der Chemie gang und gäbe sind, ist bei Milch nun wohl kaum zu rechnen.
Allein auf weiter Flur
Auf meiner Suche nach mehr Arbeiten über Casozepin bin ich auf eine einsame Studie gestoßen, die im Jahr 2009 veröffentlicht wurde (Zara de Saint-Hilaire et. al.: Effects of a Bovine Alpha S1-Casein Tryptic Hydrolysate (CTH) on Sleep Disorder in Japanese General Population; The Open Sleep Journal, 2009, 2, 26-32; http://www.lactiumusa.com/pdf/restudy/effects-of-bovine-alpha.pdf).
In dieser Studie wird der Effekt eines Hydrolysats von ?S1-Casein aus Kuhmilch untersucht. Ziel der Untersuchung war, den Einfluss des Peptids auf japanische Arbeiter mit Schlafstörungen zu bewerten. Dazu wurden 32 Probanden in einem Alter von 25 bis 40 Jahren in die Studie aufgenommen. Die Probanden wurden per standardisiertem Fragebogen zur subjektiven Beurteilung ihrer Schlafqualität befragt. Das Peptid verbesserte, laut Autoren, die subjektive Schlafqualität der Probanden signifikant. Der Effekt war bereits nach zwei Behandlungswochen besonders deutlich ausgeprägt.
Es zeigte sich außerdem eine Verkürzung der Einschlafzeit und Verbesserung der mentalen Funktionen am Tage nach vier Wochen Behandlung. Die Verbesserung der Schlafqualität wurde von den Autoren mit einer Stressreduktion durch das Peptid in Zusammenhang gebracht, die besonders bei einer Dauereinnahme des Peptids ersichtlich wird.
Als Schlussfolgerung bemerken die Autoren, dass das Peptid eine Reihe von nützlichen Effekten zeigte und dabei vollkommen nebenwirkungsfrei war. Von daher kann man davon ausgehen, dass das Peptid in der Lage ist, chronische Schlafstörungen von Japanern günstig zu beeinflussen. Die Autoren wünschen sich aber noch weitere Arbeiten zu diesem Thema. Die biochemischen Eigenschaften der aktiven Substanz bleiben auch offen. Man weiß also nicht, ob die Effekte dieser Arbeit auf einer Wirkung des Casozepins beruhen.
Wenig Wissenschaft, viel Marketing
Bei dieser mangelnden Fülle an wissenschaftlichem Bewertungsmaterial würde ich mir auch eine Menge mehr Arbeiten zu diesem Thema wünschen. Man stelle sich nur vor, dass man Angstzustände, Epilepsien, Nervosität, Neigungen zu Krampfanfällen usw. nicht mit einem abhängigmachenden, von Wirkungsverlust gezeichneten, potentiell bei Überdosierung tödlichen Benzodiazepin oder anderen Substanzklassen zu behandeln bräuchte. Statt dessen würde dieser „Trick“ gleich gut – aber deutlich nebenwirkungsärmer – von einem „Milchderivat“ erreicht. Dies wäre natürlich wieder einmal ein Tritt in die Kniekehlen der Pharmaindustrie, die an so was nun wirklich kein Interesse hat. Das wäre die eine Seite.
Die andere Seite sind aber nun die vollmundigen Versprechungen der Firma SanaCare. Einige der Aussagen halte ich für stark diskussionsbedürftig, wie z.B.: „Das Ruhigwerden des Babys nach dem Milchtrinken beschäftigte ein junges Forscherteam der Universität Nancy unter Leitung von Professor Linde mit der Frage, ob es hier wohl eine Verbindung gibt zwischen der tryptischen Hydrolyse eines Milchproteins und der beruhigenden Wirkung auf das Baby.“ Es wird hier auf die 2001-Studie Bezug genommen.
Nur: Das Forscherteam hat gar keine Babys untersucht, sondern Ratten. Es gibt bislang noch gar keine Untersuchung über anxiolytische Komponenten in der Muttermilch und deren Wirkung auf den Säugling – jedenfalls ist mir keine bekannt. Vielleicht ist dies mal ein Wink mit dem Zaunpfahl an die Forschung, Casozepin in diese Richtung zu untersuchen?
Denn es ist nicht unbedingt anzunehmen, dass das Baby-Verdauungssystem alle notwendigen Verdauungsenzyme in ausreichender Menge bereit hält, um aus Casein Casozepin zu bilden. Ein Rückschluss von Erwachsenen auf die Säuglinge ist auch nicht zulässig. Säuglinge sind eben keine kleinen Erwachsenen – und schon gar nicht im Verdauungstrakt.
Auch mit der Beschreibung des Inhalts des Produkts nimmt es SanaCare nicht sonderlich genau. Erst beinhaltet „Eine Kapsel . . . 150 mg hydrolisiertes sodium-5-caseinat Milchprotein“. Eine Seite weiter dann heißt es: „SanaTranquilact® beinhaltet eine hohe Konzentration an hochwirksamen Milch-Peptid (Tryptisches Hydroysat)“. Gemeint war wohl „HydroLysat…“
Also in deutsch: Die Kapseln enthalten 150 Milligramm Casein oder das „hochwirksame“ (woher kommt diese Erkenntnis eigentlich?) tryptische Hydrolysat. Aber ein Hydrolysat ist kein Casein mehr, das war es mal vor der Hydrolyse … Nun, was ist jetzt wirklich drin?
„Lustig“ ist auch die Formulierung „sodium-5-caseinat Milchprotein“. Casein ist ein Milchprotein. Was aber ist dann ein Casein Milchprotein? Ein weißer Schimmel oder ein schwarzer Rappe? Dies alles hört sich mehr nach Hollywood für Möchtegern-Wissenschaftler an. Und wie immer stellt sich die Frage nach möglichen Nebenwirkungen. Die Firmeninfo lautet da ganz lapidar: „Es wurden noch keine Nebenwirkungen bekannt“.
Da wir jetzt immer noch nicht wissen, was nun wirklich in den Kapseln drin ist, Casein oder Hydrolysat, kann man dazu nur rätselraten. Sollte es sich um eine der Casein-Untergruppen handeln, also um alphaS1-Casein, dann gibt es zumindest die Möglichkeit einer Allergieentwicklung, die glücklicherweise nur selten auftritt. Denn Casein und Gluten haben eine recht ähnliche biochemische Struktur. Von daher treten die Glutenunverträglichkeit und eine gewisse Intoleranz gegenüber Casein Hand in Hand auf. Für die Leute, die an einer Zöliakie leiden, ist oft nicht nur eine glutenfreie Kost angesagt, sondern auch eine caseinfreie oder caseinreduzierte.
Wir haben es hier also mit einem Nebenwirkungsspektrum zu tun, dass lächerlich klein ist im Vergleich zu den chemischen Keulen. Aber „keine Nebenwirkungen“? Zumindest dürfte ein „Informationshinweis“ angebracht sein.
Fazit: Ok – ich war hier mal sehr kritisch. Beim lesen meiner Veröffentlichungen finden sich sicher auch duzende Ungereimtheiten und ältere Artikel die überarbeitet werden müssten.
Wenn ich aber Produktinformationen zu Medikamenten und Nahrungsergänzungsmitteln erhalte, mache ich mir da schon so meine Gedanken. Leider kann ich dem nach Wissenschaft riechenden Marketing für das sicherlich nicht uninteressante Produkt nichts abgewinnen. „Wissenschaft als Legitimation“ ist es dann, wenn man viele Fremd- und Fachworte benutzt und hofft, dass andere davon beeindruckt sind.
Ich bin deutlich eher geneigt, mich mit neuen Produkten etwas intensiver zu befassen, wenn die Begleitinformation besser gestaltet sind. Wenn man es noch nicht so genau weiß, dann sollte man dies auch sagen. Wenn man etwas vermutet (zum Beispiel, dass die Babys vom Hydrolysat einschlafen), dann sollte man auch darauf hinweisen, dass das eine Vermutung ist und nicht den Sachverhalt als quasi bewiesene Tatsache darstellen. Darunter leidet die Glaubwürdigkeit des Verkäufers und die mögliche Akzeptanz des Produkts.