Es hatte geschneit. Zwar noch nicht viel – etwa fünf Zentimeter – und vermutlich auch nicht die Art von Schnee, die sich lange hält, aber immerhin. Bisher war die Schicht noch relativ ruhig gewesen. Wir befanden uns auf der freien Rückfahrt von einem Krankentransport. Kein Radio, keine Unterhaltung. Es war einfach schön, so über’s Land zu tuckern und zuzusehen, wie sich alles in einen weissen Schleier hüllte. Gerade bogen wir auf eine Bundesstrasse ein, als eine Stimme aus dem Äther die Ruhe durchbrach: “Wo ist ihr Standort?” wurden wir gefragt. Nachdem wir unsere Position durchgegeben hatten, sorgte die Mitteilung “Weiter mit Signal auf dieser Strecke, Höhe Abzweigung Musterdorf, Verkehrsunfall Person klemmt!” für ein jähes Ende dieser gemütlichen Tour-de-Ländle.
Ausser uns wurden noch ein weiterer Rettungswagen, ein Notarzt, sowie – bei diesem Einsatzstichwort üblich – Feuerwehr und Polizei alarmiert.
Bereits 3 Minuten nach der Alarmierung trafen wir am Unfallort ein, kramten schnell unsere sieben Sachen aus dem RTW und näherten uns schnellen Schrittes dem völlig deformierten Autowrack, das offensichtlich von der Fahrbahn abgekommen, eine kleine Böschung hinabgestürzt und gegen einen Brückenpfeiler geprallt war. Anhand der Spuren im Schnee war zu sehen, dass sich das Fahrzeug, das auf der Beifahrerseite lag, offensichtlich mehrfach überschlagen hatte.
Beim Herangehen an die Unfallstelle machte ich mir ein Bild von der Situation: Kein weiteres Fahrzeug beteiligt, ein Fahrzeug mit Warnblinkanlage am Strassenrand, zwei Ersthelfer.
Am Ort des Geschehens angekommen bot sich uns ein Bild, das kein Rettungsdienstler gerne zu Gesicht bekommt und so schnappte ich mir das Funkgerät um die erste Lagemeldung abzugeben: “Fahrzeug gegen Brückenpfeiler, drei mal Polytrauma, massiv eingeklemmt, darunter zwei Kinder! Wir brauchen zusätzlich noch mal einen RTW und zwei NEF!“
Es gestaltete sich enorm schwer, an die eingeklemmten Personen heran zu kommen. Eine Ansprache des Fahrers war bedingt möglich, die beiden Kinder – eines auf dem Beifahrersitz, das andere im Fond des PKW – waren bewusstlos.
Über die Front des Fahrzeuges war es möglich, Fahrer und Beifahrer ein Stück weit zu versorgen und so konnte ich mir einen ersten Überblick verschaffen: Der – etwa 40-jährige – Mann am Steuer war als schweres Polytrauma einzustufen, Kreislauf und Atmung waren jedoch noch vorhanden. Der Junge auf dem Beifahrersitz stellte sich als reanimationspflichtig heraus. Ich begann sofort mit der Versorgung des Fahrers, während mein Kollege versuchte, von oben zu dem Mädchen auf der Rückbank zu kommen…
Die gefühlte Stunde (in Wirklichkeit waren es acht Minuten!), bis weitere Rettungskräfte eintrafen, werde ich wohl mein Leben lang nicht mehr vergessen. Es war mir gelungen, dem – zunehmend eintrübenden – Fahrer einen venösen Zugang zu legen und Sauerstoff zu applizieren, alle weiteren Maßnahmen konnten aufgrund der massiven Deformierung nicht durchgeführt werden.
Es dauerte noch einige Minuten länger, bis die Feuerwehr das schwere Rettungsgerät an die Unfallstelle herangeschafft hatte und damit beginnen konnte, die Personen zu befreien. Klar war, dass es sich um eine sogenannte “Crash-Rettung” handeln musste, d.h. dass auf die Stabilisierung der Wirbelsäule, oder ähnliche – sonst üblichen – Dinge keine Rücksicht genommen werden konnte. Die Patienten mussten einfach nur so schnell wie möglich raus aus dem Fahrzeug, egal wie!
Die traurige Bilanz, als alle Personen erreicht worden waren, traf mich wirklich wie ein Pflasterstein in’s Gesicht: Die beiden Kinder waren definitiv tot, der Fahrer wurde relativ zügig befreit und rang in einem der RTW’s weiter um sein Leben. Die Rettung des Mannes war durch die – nun oben liegende – Tür erfolgt; die weitere Versorgung von einem anderen Team mit Notarzt übernommen worden.
Nun begann der unangenehme Teil: Die beiden toten Kinder mussten aus dem Blechknäuel herausgeschnitten werden. Aufgrund der Tatsache, dass sich bereits einige Passanten um die Einsatzstelle verdammelt hatten, beschlossen wir, die Leichen – bis zum Eintreffen des Leichenwagens – in die RTW’s zu verbringen.
Der Einsatz war ohnehin schon schrecklich fordernd und belastend, aber es sollte noch schlimmer kommen:
Ohnehin schon relativ fertig, war ich gerade dabei den Kollegen beim Bergen des toten Jungen zu helfen, als ich plötzlich in zwei fassungslose Augen blicken musste: Eine Dame, etwa Mitte 30, stand nun urplötzlich vor uns. Einer der Polizeibeamten, der sich in unmittelbarer Nähe befand, wollte gerade einschreiten, als wir realisierten, dass nun im wahrsten Sinne des Wortes “die Kacke am dampfen” war!
Aus irgendwelchen Gründen war die Mutter der Kinder und Ehefrau des Fahrers zur Einsatzstelle gekommen…
Ich denke, jeder kann sich vorstellen, was nun geboten war und das wünsche ich wirklich niemandem! Völlig überrascht von der neuen Situation, wusste ich im ersten Moment überhaupt nicht, was ich sagen oder tun sollte. Wir schafften es nach geraumer Zeit, die Dame – mit vereinten Kräften – in unseren Rettungswagen zu verbringen. Die Zeit, bis das – vom Einsatzleiter gottseidank schon zu Beginn des Einsatzes – nachalarmierte Kriseninterventionsteam eintraf, war die wohl schlimmste Zeit die ich bis dato erleben musste!
Wir sind ausgebildet, Menschen zu helfen! Seien die Verletzungen oder Erkrankungen noch so schwer, es gibt Algorithmen, mit denen wir jede erdenkliche Notfallsituation meistern können! Ja, wir sind auch für psychische Notfälle und sog. Basiskrisenintervention geschult, aber die tatsächliche Praxis lässt sich nur schwer bewältigen, wenn man nur die “Basics” kennt und sich dann – ohne Vorbereitungszeit – in so einer Situation wiederfindet: Wir alle – also mein Kollege und ich, sowie der Notarzt und ein Polizeibeamter – waren erst einmal komplett überfordert!
Ich war mehr als nur erleichtert, als Minuten später endlich die Türe geöffnet wurde und ein Notfallseelsorger hereintrat. Er war von einem Kollegen draussen schon in die Situation eingeweiht worden und übernahm nun vorsichtig und langsam die Betreuung der Patientin, während wir uns – gottseidank – vorsichtig aus dem Staub machen konnten. Lediglich unser Notarzt blieb noch im Fahrzeug.
Ich sage euch: Nicht für zehntausend Euro hätte ich in diesem Moment mit dem Seelsorger tauschen wollen! Die Arbeit dieser Menschen verdient absolute Hochachtung, insbesondere wenn man bedenkt, dass die Mitarbeiter des KIT ehrenamtlich tätig sind und bei ihrer Arbeit keinen Cent verdienen!
Leider kann ich euch nicht sagen, wie es für den Mann ausging. Es bleibt zu hoffen, dass er überlebt hat und wieder auf die Beine kommt. Die Frau, soviel kann ich mit Sicherheit sagen, ist auch nach über einem Jahr noch in Betreuung und wird es wohl auch noch eine ganze Weile bleiben..
Dieser Post soll euch auf noch Kommendes vorbereiten und sensibilisieren. Ich werde in den nächsten Tagen die Arbeit von Kriseninterventionsteams und Notfallseelsorgern vorstellen und hinter die Kulissen blicken: Was sind das für Menschen? Was genau tun sie? Wie sind sie strukturiert? Welche Aufgaben nehmen sie wahr? Welche Motivation gibt es? Alles zum Thema Krisenintervention und Nofallnachsorge also in Kürze hier im Blog….