Über vier Millionen Menschen in Deutschland leiden an einer Depression. Menschen mit HIV sind im besonderen Maße gefährdet an ihr zu erkranken. In Seminaren können Betroffene und Aids-Hilfe-Mitarbeiter lernen, besser mit der tabuisierten Krankheit umzugehen. Von Axel Schock
Der Erfolg gab den Veranstaltern des 1. Deutschen Patientenkongresses Depression Recht. Über 1000 Menschen besuchten die Veranstaltung am 2. Oktober in Leipzig, die unter dem Motto „Raus aus der Isolation“ stattfand.
Lange wurde über diese tabuisierte Krankheit in der Öffentlichkeit kaum geredet. Erst in jüngster Zeit – unter anderem durch prominente Fälle wie den Freitod des Fußballers Robert Enke oder den Rückzug des Wintersportlers Sven Hannawald aus dem Profisport – wurde die Volkskrankheit breiter öffentlich diskutiert. „Doch immer noch werden viele Depressionen nicht oder zu spät erkannt und bleiben deshalb unbehandelt“, erklärte Prof. Dr. Ulrich Hegerl, Direktor der Klinik für Psychiatrie der Universität Leipzig, auf dem Kongress. „Die Gründe dafür reichen von mangelndem Wissen in der Bevölkerung, Angst und Scham vor Stigmatisierung bei den Betroffenen bis zu diagnostischen und therapeutischen Defiziten in der Versorgung“, ergänzte Dr. Christine Rummel-Kluge von der Stiftung Deutsche Depressionshilfe.
Menschen mit HIV müssen sich bei einer seelischen Erkrankung gleich mit einer doppelten Stigmatisierung auseinandersetzen. Umso wichtiger sei deshalb, dass Aidshilfen ein Ort sind, an dem solche Themen offen angesprochen werden können, sagt der Psychologe Karl Lemmen vom Fachbereich Psychosoziales & Qualitätsentwicklung der Deutschen AIDS-Hilfe. Er bietet zusammen mit einem Kollegen spezielle Patienten- und Mitarbeiterschulungen zum Thema HIV und Depression für regionale Aidshilfen an.
Weshalb ist es wichtig, sich insbesondere im Zusammenhang mit HIV intensiver mit Depressionen auseinanderzusetzen?
Karl Lemmen: Man kann auf dieses Thema nicht genug hinweisen. Zum einen, weil die Depression als Krankheit unterschätzt wird: Sie kann genauso tödlich sein wie HIV. Ich habe in den frühen Jahren von HIV als Psychologe in der Berliner Aids-Hilfe gearbeitet, bin dort bei Klienten immer wieder mit Depressionen konfrontiert worden und musste auch miterleben, dass sich einige das Leben genommen haben. Ein weiterer Grund: die Depression ist mindestens genauso, wenn nicht sogar stärker stigmatisiert als eine HIV-Infektion. Auch das ist eine besondere Herausforderung.
Es bedurfte erst einiger spektakulärer Fälle von Prominenten, damit die Krankheit eine breitere öffentliche Aufmerksamkeit erhielt.
Es ist schon sehr erstaunlich, dass das Magazin „STERN“ erst 2010 eine Titelgeschichte zum Thema „Ich bin depressiv“ brachte. Als HIV-Positiver konnte man sich bereits 1998 auf einem „STERN“-Cover outen. Das macht deutlich, welches Stigma und welche Angst mit dieser Krankheit verbunden ist. Es war und ist immer noch ein großes Tabu, darüber zu reden, auch in Aidshilfe-Zusammenhängen.
Diese Möglichkeiten sollen nun durch eure Schulungen geschaffen werden, die für regionale Aidshilfen angeboten werden.
Ursprünglich hatten wir sie als Fortbildung für Mitarbeiter konzipiert, inzwischen hat sich daraus auch eine Patientenschulung entwickelt. In dem eintägigen Seminar, eine Mischung aus Vortrag, Kleingruppenarbeit und allgemeiner Diskussion, erfahren die Teilnehmer mehr über die Krankheit, um sie besser verstehen und besser mit ihr umgehen zu können.
Entscheidend ist, die Krankheitsbilder einer Depression erkennen und einordnen zu können
Wichtig ist das auch, weil durch die Selbsthilfe von den Betroffenen selbst sehr viel zur Verbesserung ihrer eigenen Situation beigetragen werden kann. Allein die die Möglichkeit, endlich einmal offen unter Positiven darüber reden zu können, ist für viele bereits eine enorme Hilfe.
Um über die eigene Depression sprechen zu können, muss allerdings zunächst die Krankheit als solche diagnostiziert worden sein.
Das stellt in der Tat eine besondere Schwierigkeit dar. Die Betroffenen selbst fühlen sich in der Regel nämlich nicht krank, sondern schlecht. Sie empfinden sich als minderwertig, faul und wertlos. Sie kommen aber nicht auf die Idee, dass dieses Sich-schlecht-Fühlen Symptom einer Krankheit sein könnte. Dies muss ihnen in der Regel jemand von außen sagen: „Hey, du bist gar nicht mehr du selbst. Du bist schon seit geraumer Zeit derartig schlecht drauf, könnte es sein, dass du eine Depression hast?“ Es kann bisweilen schon ungeheuer erleichternd sein, wenn dieses Gefühl endlich einen Namen bekommt. Es bedeutet zudem, dass man in der Regel auch dagegen angehen kann.
Welche besonderen Schwierigkeiten gibt es bei der Diagnose-Depression im Zusammenhang mit HIV?
Wer in einer Depression steckt, hat meist Schwierigkeiten, sie selbst zu erkennen. Das gilt, wenn es sich um eine Ersterkrankung handelt und einem die Symptome noch nicht bekannt sind. Gerade im Kontext von HIV werden die eher unspezifischen Symptome oft verkannt.
Wer in einer Depression steckt, hat meist Schwierigkeiten, sie selbst zu erkennen
Schuldgefühle wegen der Infektion, das Gefühl, weniger wert zu sein – das sind Dinge, die jeder Positive einmal erlebt haben dürfte. Sie können auch Ausdruck einer dahinter liegenden Depression sein und bedürfen dann auch einer entsprechenden Behandlung.
Wo liegen denn die Ursachen der Depressionen bei Menschen mit HIV? Sind sie Folgen der HIV-Erkrankung, oder gab es bereits vor der Infektion depressive Tendenzen?
Die Patientenworkshops sollen den Beteiligten die Möglichkeit geben, selbst eine Antwort auf diese Frage zu finden. Wir fragen sie zum Einstieg stets, was ihre eigene Einschätzung ist. Manche sagen, dass sie sich zu einem Zeitpunkt infiziert haben, als sie in einer depressiven Phase steckten. Die Depression bestand also schon vorher und hat HIV mit bedingt. Andere berichten, welchen Schleier die Diagnose über ihr Leben gelegt hat. Es gibt Menschen, die sind dünnhäutiger, andere aus eher grobem Holz geschnitzt. Letztere können sicherlich mehr wegstecken, vielleicht auch eine HIV-Diagnose. Für sensitivere Menschen kann die Infektion jedoch einen großen Stress bedeuten und unter Umständen eine Depression bedingen.
Inwieweit können Depressionen auch als Nebenwirkung der Medikation auftreten?
Es gibt ein paar Medikamente, die verdächtig sind, Depressionen hervorzurufen. Sustiva gehört beispielsweise dazu. Viel schwerwiegender sind allerdings Medikamente, die bei einer Hepatitis-C-Therapie eingesetzt werden. Aus diesem Grund wird in der Regel bereits zwei Wochen vor einer Interferon-Therapie schon mit einer antidepressiven Therapie begonnen. Dadurch können entsprechende Nebenwirkungen medikamentös begrenzt werden.
Können Psychopharmaka und HIV-Medikamenten miteinander kollidieren?
In der Tat passen nicht alle Therapien zusammen. Parallel zu HIV-Medikamenten können nur drei, vier bestimmte Psychopharmaka eingesetzt werden. Glücklicherweise handelt es sich um Standardmedikamente einer jüngeren Generation mit weniger Nebenwirkungen. In der Regel sind HIV-Medikamente und Antidepressiva gut mit einander zu kombinieren. Der behandelnde Psychiater muss allerdings wissen, dass eine antivirale Therapie (ART) besteht, um die Medikamente entsprechend auswählen zu können.
Sind HIV-positive Menschen für Depressionen besonders anfällig?
Infolge der ART sind hirnorganischen Erkrankungen und Manien zurückgegangen. Zugenommen haben dadurch hingegen Depressionen und sexuelle Funktionsstörungen. Der Anstieg der Depressionen kann mit durch die Medikamente bedingt sein, naheliegend sind aber die psychischen Folgen, die das lange Leben mit HIV mitbringen kann. Wir sprechen nicht von ungefähr von einem „positiven Burn-out“. Man darf nicht vergessen, welchen permanenten Stress das Leben mit der Diagnose darstellen kann, gerade bei Menschen, die schon sehr lange mit der Krankheit leben. Ihr alter Lebensentwurf war von einem Tag auf den anderen nicht mehr gültig. Man machte ihnen klar, dass sie sich auf einen frühen Tod einstellen müssten. Dann aber kam alles anders. Sie leben erfreulicherweise weiter, aber nun stellt sich die Frage, wie. Die finanziellen Ressourcen sind vielleicht aufgezehrt, die beruflichen Perspektiven schwierig. All das kann eine ungeheure Belastung sein und zu einem positiven Burn-out, zu einer Depression führen.
Wie kann eine Depression überwunden werden?
Es gibt drei klassische Wege, einer allein ist in der Regel nicht ausreichend. In bestimmten Fällen, wenn Menschen sehr tief in einer Depression stecken, kommt man um Psychopharmaka nicht herum. Der Königsweg für mich als Psychologe ist die Psychotherapie. Medikamente können helfen und unterstützend wirken, die eigentliche Problemlösung aber bringt eine Psychotherapie. Als dritter Pfeiler sind Selbsthilfeprogramme nicht zu vergessen. Menschen mit Depressionen müssen lernen, wieder etwas für sich zu tun und sich zu pflegen. Dazu gehören beispielsweise Ernährung und Bewegung wie auch soziale Kontakte.
Was kann die Aidshilfe für Menschen mit Depressionen leisten?
Ein entscheidendes Symptom der Depression ist der soziale Rückzug, für den schlüssige Gründe vorgeschoben werden: „Ich fühle mich schwach, ich brauche meine Ruhe und muss mich schonen.“ Das Fatale dabei aber ist, dass der sozialer Rückzug nicht nur Symptom, sondern auch verstärkende Ursache einer Depression ist. Deshalb müsste man jemanden, der sich zurückzieht, auch ein wenig wieder herauszerren. Im Normalfall denkt man: „Wenn einer nicht will, muss man ihn lassen“. Das gilt bei einem gesunden, nicht aber bei einem depressiven Menschen.Hier genau ist der Punkt, wo Aidshilfe und Patient miteinander verhandeln und sich absprechen können. Er kann bestimmen, wie viel er gezogen werden will, wenn er wieder in einer depressiven Phase steckt. Auf diese Weise lässt sich das Leben mit einer Depression viel besser gestaltet und in den Griff bekommen.
Interessierte Aidshilfen, die bei sich Patienten- und Mitarbeiterschulungen zum Thema „HIV und Depression: Management des doppelten Stigmas“ durchführen möchten, wenden sich an: Werner.Bock@dah.aidshilfe.de