HIV-Medikamente sind in etlichen ost- und südosteuropäischen Ländern immer wieder Mangelware. Die europäische Therapie-Aktivistengruppe EATG hat deshalb „Orientierungshilfen für den Notfall“ veröffentlicht. Peter Wiessner berichtet von der 13. Europäischen AIDS-Konferenz in Belgrad.
Was tun, wenn der Arzt sagt: „Tut mir leid, aber HIV-Medikament XY gibt’s erst wieder im nächsten Monat.“? Wohin gehen, wenn es heißt: „Für die Kombitherapie, die Sie brauchen, habe ich nur noch die erste Substanz, die beiden anderen sind bis Ende des Quartals nicht mehr verfügbar.“? Wie weiter, wenn die Ärztin sagt: „Medikamente kann Ihnen zwar noch verschreiben, aber Labortests – Messungen der Viruslast und Helferzellzahl oder Resistenztests – werden nicht mehr finanziert.“?
Für viele HIV-Patienten wäre das eine Horrorvorstellung, denn bei Unterbrechung einer antiretroviralen Therapie kann HIV resistent werden – die Medikamente wirken dann nicht mehr richtig. Für HIV-Positive aus 14 europäischen Ländern – darunter Rumänien, Bulgarien, Serbien, Mazedonien, Russland und die Ukraine – sind solche „Zwangspausen“ aber Alltag. Der Grund sind „Stock-outs“, das heißt, die Medikamente sind „nicht mehr auf Lager“.
Aktivisten sprechen von flächendeckender Mangelversorgung
In Rumänien beispielsweise kam es in den beiden letzten Jahren landesweit zu Stock-outs, die Therapieunterbrechungen von bis zu zehn Tagen nach sich zogen. Offensichtlich wird der Medikamentenbedarf in den einzelnen Regionen zu niedrig eingeschätzt, sodass das Budget für einen höheren Bedarf dann nicht ausreicht. In Litauen gab es über ein Jahr lang Engpässe bei Labortests, in der Hauptstadt Vilnius ging das Medikament Evafirenz aus. Auch aus Russland berichten Aktivisten von flächendeckender Mangelversorgung. Das Problem sei hier, dass das Gesundheitsministerium nicht wisse, welche Folgen eine Therapieunterbrechung hat, und dass es keine verbindlichen Behandlungsrichtlinien gebe.
Besonders dramatisch ist die Situation in der Ukraine. Wie die Aktivistin Ana Koshikova vom Ukrainischen Netzwerk berichtet, gibt es nach der offiziellen Statistik in dem Land derzeit 110.401 registrierte Menschen mit HIV (UNAIDS schätzt ihre Zahl allerdings auf 300.000), aber nur 25.298 von ihnen hätten Zugang zu HIV-Therapien. 18 Prozent der Behandlungen seien von der Regierung finanziert, der Rest unter anderem durch Mittel des Globalen Fonds. Stock-outs beobachte man regelmäßig, vor allem, weil die Medikamente nur einmal im Jahr bestellt würden, die Planung unzureichend sei und es an Transparenz mangele. Ana Koshikova schlägt ein nationales Register vor, in dem alle Behandlungen erfasst werden, um Aufschluss über den tatsächlichen Bedarf zu erhalten. Damit soll – auch wenn es nicht ausgesprochen wird – verhindert werden, dass die für Medikamente bestimmten Gelder in den Taschen korrupter Beamter verschwinden.
Viele Patienten in den betroffenen Regionen wissen nur wenig über die HIV-Therapie
Medikamenten-Engpässe verunsichern und ängstigen die Betroffenen. Sie möchten wissen, was sie in einem solchen Fall zum Schutz ihrer Gesundheit tun können, und suchen nach verlässlichen Informationen. Viele Patienten in den betroffenen Regionen wissen nur wenig über die HIV-Therapie. Wie Aktivisten berichten, erschwert es das stark hierarchische Arzt-Patient-Verhältnis, sich beim Arzt kundig zu machen. Auch sei es gut möglich, dass Ärzte vom Staat angehalten sind, Stock-outs zu verschleiern, oder dass sie sich dem politischen System ohnehin stärker verpflichtet fühlen als der Gesundheit ihrer Patienten. Außerdem: Woran sollten sich Ärzte und HIV-Positive orientieren, wo es doch keine Behandlungsrichtlinien von dafür zuständigen Fachgesellschaften gibt?
Erzwungene Therapie-Unterbrechungen verletzen die Menschenrechte von HIV-Positiven
Um den Schaden möglichst gering zu halten, aber auch, um Politik, Fachwelt und Öffentlichkeit auf dieses Problem aufmerksam zu machen, hat die Therapie-Aktivistengruppe European AIDS Treatment Group (EATG) „Orientierungshilfen für den Notfall erzwungener Therapieunterbrechungen für Menschen mit HIV und Aids und ihre Behandelnden“ erarbeitet (in Englisch) und sie in die Sprachen der betroffenen Regionen übersetzen lassen. Präsentiert wurden sie am 13. Oktober auf der Europäischen AIDS-Konferenz in Belgrad.
Die Leitlinien informieren über die Folgen von Therapie-Unterbrechungen und beschreiben, was der Einzelne tun kann, um den Schaden in solch einem Fall zu mindern. Sie machen aber auch deutlich, dass erzwungene Therapie-Unterbrechungen eine Verletzung der Menschenrechte von HIV-Positiven darstellen, und fordern die politisch Verantwortlichen der betroffenen Länder auf, Maßnahmen zur Verbesserung der Situation einzuleiten.
Weitere Informationen:
Orientierungshilfen für den Notfall (in Englisch)