Operationswut am Beispiel des Schultergelenks

Operationswut am Beispiel des Schultergelenks

Das kranke Schultergelenk ist ein sehr gutes Beispiel für die Operationswut in Deutschland. Dabei geht es fast immer um das sogenannte Impingement-Syndrom, frei übersetzt – Schulterengpass-Syndrom.

Schulterschmerz

Die Schulter und ihre Erkrankungen sollen an dieser Stelle nicht vollständig erklärt werden, nur so viel:

Eine entzündliche Schwellung unterhalb des Schulterdaches oder ein Einriss, der dort vorhandenen Sehnen ist extrem schmerzhaft. Wer jemals unter einem klassischen Impingement-Syndrom gelitten hat, wird das bestätigen. Kaum ein verletztes Gelenk sendet derart massive Schmerzsignale wie die Schulter.

Gefahr der Versteifung

Dazu kommt, dass das Schultergelenk extrem anfällig für krankhafte Bewegungseinschränkungen ist, sogenannte Kontrakturen, die, wenn sie nicht rechtzeitig behandelt werden, dauerhaft bleiben können.

Ein Syndrom fasst viele Symptome zusammen

Unterhalb des Schulterdaches sind die Verhältnisse bereits im Normalzustand dicht gedrängt, Muskeln, Sehnen, Schleimbeutel, alles beansprucht den im bescheiden Maß unter dem Schulterdach vorhandenen Platz. So kommt es bereits ohne Verletzung oder Verschleiß zum Impingement (Anstoßen, Einklemmen). Verändern sich die Verhältnisse durch Entzündung oder Verletzung und kommen Spornbildungen an den Knochen und Kalkeinlagerungen hinzu, wird es richtig eng und – schmerzhaft.

Das ist der Grund, warum im Falle des Impingement-Syndroms, der Arm kaum bis zur Waagerechten angehoben werden kann. Forciert man das Anheben als untersuchender Arzt passiv, geht der Patient in die Knie.

Unlogisches Fazit

Schmerzen, Anfälligkeit für Versteifung und Enge durch Schwellungen, sind per se Erscheinungen, die nicht gerade für eine operative Therapie sprechen.

Eine Operation löst nämlich Schmerz aus, erhöht die Versteifungsgefahr eines Gelenkes und bewirkt Schwellungen. Trotzdem wird die erkrankte, deutsche Schulter auf Teufel komm‘ raus operiert. Damit ist klar, dass die Gründe, die für eine Operation sprechen, anderswo liegen müssen.

Geduld – eine verlorene Tugend

Die Logik jedenfalls sagt, statt OP sind Schmerzbekämpfung, dazu abschwellende Maßnahmen und der Erhalt der Bewegungsfähigkeit wichtig. Und so funktioniert es tatsächlich auch in der Realität. Schmerzmittel, die gleichzeitig Entzündungshemmer sind, Eispackungen, dazu Physiotherapie sorgen für eine Ausheilung nahezu jeden Impingement-Syndroms.

Allerdings kommt in diesem besonderen medizinischen Fall der Schulter ein ganz wesentlicher Punkt hinzu – Geduld und Disziplin!!!

Ein Schulterschmerz kommt gern über Nacht oder gar von einer Sekunde auf die andere, geht aber erst nach zähem, beharrlichen Kampf, sprich Therapie.

OP und alle sind glücklich?

An diesem entscheidenden Punkt treffen sich die eingeschränkte Sichtweise der chirurgisch tätigen Ärzte, die wirtschaftlichen Interessen der Mediziner und die Ungeduld der Patienten. Die Folge, es wird ein MRT veranlasst. Die Folge (fast ein Reflex) – es wird operiert. Allerdings, und jetzt wird es paradox: Zur postoperativen Behandlung der Schulter gehören entzündungshemmende Schmerzmittel, Eis, Physiotherapie und Geduld. Kommt einem bekannt vor, nicht wahr?

Aber jetzt sind alle Seiten zufrieden, der operativ tätige Arzt hat operiert und der Patient wurde operiert, hat also nach allen Seiten (sich selbst gegenüber, seiner Familie und seinem Arbeitgeber gegenüber) das Recht und die Pflicht, sich geduldig nachbehandeln zu lassen. Ohne die zwei kleinen Einstichstellen an der Schulter ist das offenbar nicht möglich.

 

Es folgen drei PS

Erstes PS: Geduld in Sachen Therapie der kranken Schulter heißt oft mehrere Monate oder gar ein Jahr. Das bedeutet nicht für die komplette Zeit arbeitsunfähig zu sein, aber doch wiederholter Schmerzmittelbedarf und diszipliniert anhaltende Übungstätigkeit, nicht des Physiotherapeuten, sondern des Erkrankten.

Zweites PS: MRTs sind im Zusammenhang mit dem Impingement-Syndrom meines Erachtens nahezu vollkommen verzichtbar (in Wirklichkeit aber der große Renner). Die Untersuchung mit Augen, Händen und Hirn des Arztes reicht in den allermeisten Fällen. Ein MRT der Schulter belegt nur (und wirklich nichts anderes), dass es in jedem Menschen anders aussieht, und das Anatomiebücher den Idealfall darstellen. Dazu kommt, und das ist im Falle der Schulter besonders bemerkenswert, dass ein MRT keinerlei Dynamik beurteilt. Ein MRT bildet einen statischen Befund ab. Beweist ein MRT beispielsweise, dass die Rotatorenmanschette nahezu komplett abgerissen ist, heißt das noch lange nicht, dass die Schulter des Betreffenden nicht schmerzfrei und ohne Einschränkung zu bewegen wäre. Ärzte sollten niemals Röntgenbilder oder andere Befunde operieren, sondern immer den kranken Menschen.

Drittes PS: Ganz selten, wirklich ganz selten, kommt es zum kompletten Sehnenabriss in der Schulter, der selbstverständlich operativ versorgt werden muss. Für den Nachweis bedarf es übrigens auch kein MRT, sondern Augen, Hände und Hirn des Arztes.

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