Tot und offiziell tot – oder: ein gesegnetes Alter (Teil 2)

Der Schwiegersohn von Frau Mayer schaut mich mit eisgrauen Augen an.
„Also, Doktor, wann ist der Totenschein fertig?“ fragt er.
„Den können Sie im Laufe des Tages im Sekretariat abholen.“ sage ich.
Der Schwiegersohn bleibt unerbittlich.
„Wann ist denn im Laufe des Tages?“ hakt er nach.
Ich muss mich räuspern.
„Äh… also, es dauert noch ein Weilchen…“ stammele ich dann.
„Warum?“
„Weil… weil es da noch ein paar Kleinigkeiten gibt, die ich mit unserem Oberarzt klären müsste…“
„Was für Kleinigkeiten?“
„Also… zum Beispiel die Todesursache…“
„Wie bitte?“
„Wir… wir wissen ja noch nicht, woran Ihre Schwiegermutter gestorben ist!“
Der Schwiegersohn schüttelt den Kopf und schnaubt verächtlich.
„Wie bitte, Herr Doktor?“
„Die Todesursache ist streng genommen unklar. Und bei unklarer Todesursache müssen wir eigentlich…“
Der Schwiegersohn unterbricht mich.
„Herr Doktor! Meine Schwiegermutter wäre nächste Woche neunzig Jahre alt geworden. Wenn eine fast neunzigjährige Dame von uns geht, dann ist das… immer noch ein Verlust für die Familie, aber nun wirklich nicht ganz unerwartet. Mit neunzig Jahren darf man gehen. Das sollten doch gerade Sie wissen, Herr Doktor, oder?“
Recht hat er. Trotzdem muss ich auf dem Formular eine Todesursache angeben. Und zwar eine glasklare Diagnose: Einfach so etwas wie „Herzversagen“ oder gar „Altersschwäche“ hinzuschreiben, das war vielleicht irgendwann in der Vergangenheit mal möglich gewesen, aber wer das heute tut, der riskiert einen Anruf vom Staatsanwalt. Oder sogar Schlimmeres.
Anders ausgedrückt: Houston, wir haben ein Problem!

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