Die kleinen, schwarzen Wichtigkeitsverstärker an unseren Gürteln liefen heute zur Hochform auf. Keine drei Minuten am Stück war es uns vergönnt, auf die vier Buchstaben zu sitzen. Bereits zum fünften Mal wiesen sie uns heute an, den Pflasterlaster zu satteln und einem Bürger in Not Hilfe zu leisten.
Dieses Mal sollte es zu “Kind internistisch unklar” gehen. Ein kleiner Vorort war das Ziel unserer Reise und so durfte ich dieses Mal etwas länger über das Beifahrertourette meines Schichtkollegen schmunzeln. Gut, andere Kollegen (mich inbegriffen!) regen sich auch stellenweise über die akute Taubblindheit mancher Autofahrer auf, aber ein solches Trommelkonzert auf dem Armaturenbrett, wie Herbert es regelmäßig vortrug, erlebt man selten.
Nach neun Minuten rasanter Fahrt hatte ich den RTW präzise zwischen den bescheuert geparkten Fahrzeugen in der Zielstrasse bugsiert und die Parkposition eingenommen. Immer noch schmunzelnd trottete ich um das Fahrzeug, um meinem Kollegen beim Tragen der Ausrüstung zu helfen.
Bis zum Erreichen der Wohnungstüre moserte mein werter Herr Kollege noch ein bisschen über die bescheuerte Halterung des Kinderkoffers, für deren fachgerechte Öffnung man ein Studium benötigt und so konnte ich mir auch noch auf Höhe der bereits offenstehenden Türe das Grinsen nicht verkneifen. Allerdings nur bis zur Türsschwelle, da war dann Schluss mit lustig!
Als wir eintraten, kam uns bereits ein feucht-warmer Geruch nach holzigem Urin entgegen. Das allgemein etwas düstere Erscheinungsbild der Wohnung Behausung, die merkwürdigen Geräusche, diese unfassbar stickige Luft und die gefühlten 35 Grad Celsius machten die ersten paar Meter bis zum Wohnzimmer zu einem echten Erlebnisparcours. Wir waren uns noch nicht so ganz sicher, was uns in dieser Geisterbahn erwarten würde, als wir Licht am Ende des Tunnels sahen. “Was’n das für’n Bunker?” hörte ich Herbert noch leise anmerken, als eine Frau in den Lichtschein am Ende des dunklen Ganges trat. Sie war nicht besonders groß und von buckeliger Figur – alles deutete darauf hin, dass sie grob geschätzt um die hundert Jahre alt sein musste. Dem war nicht ganz so – als wir näher traten, durften mussten wir feststellen, dass sie höchstens Mitte Vierzig sein konnte. Wenn man sich die gräulichen Haare, die sich merkwürdig über das biologisch abbaubare Batikhemd schlängelten, genauer ansah, lag die Vermutung nahe, dass sie wohl eine Geliebte von Öff Öff dem Waldmensch sein musste.
“Hier rein bitte!” sprach sie uns mit krächzender Stimme an und wir schlurpten schnurstracks in’s “Wohnzimmer”.
“Ach du heiliger Stohsack, was ist denn das?” hörte ich Herbert, der vor mir eingetreten war, fragen.
“Dat sin Hasen, Meersäue, Mäuse, Ratten, ein paar Chinchillas und da oben noch en paar Hamster, seh’n se die?!” antwortete die Frau prompt und nun war auch ich eingetreten und stand staunend vor geschätzen hundert Käfigen, kaum größer als Schuhschachteln, die bis zur Decke gestapelt waren. Erst einmal hatte es mich fast umgehauen, denn die Luft war enorm stickig und glühend heiss hier drin. Als Ursprung des merkwürdigen Geruches stellte sich recht schnell das verpisste Einstreu der Nager heraus, wovon ich ehrlich gesagt wenig begeistert war. Aber besser als irgendwelche Leichen.
“Boah! Was machen sie denn mit den ganzen Viechern hier drin? Da kann man sich ja kaum noch umdrehen!” – “Na züchten, was glauben sie denn?”
“Wo ist denn das Kind?” fragte Herbert die Dame, worauf die ihn erst einmal noch verdatterter als ohnehin schon anlinste und auf eine Ecke im Zimmer wies.
Gut, es war relativ schwer die ganzen Eindrücke zu verarbeiten, aber einen Primaten von einem Nagetier zu unterscheiden, das konnten wir beide gerade noch – und da, wo sie hinzeigte, war definitiv nichts menschenähnliches zu sehen!
“Wo ihr Kind ist, will ich wissen!” verdeutlichte mein lockiger Beifahrer sein Anliegen. Darauf folgte diesmal auch eine verbale Reaktion, allerdings nicht die, die wir erwartet hatten: “Watt’n für’n Kind?”
“Na das Kind, das hier angeblich in einer Notlage ist, meine ich” kämpfte Herbi erneut gegen das Quieken und Schnattern der Meerschweinchen an.
“Watt ham’se? Sie sollen doch zu mir, guter Mann!” – die Begeisterung über diese Aussage war uns beiden wohl in’s Gesicht gemeisselt, denn erstmal folgten nur ein paar fragende Blicke, dann quasselte die Ökotante plötzlich auf uns ein: “Ich hab so’n Husten und so Schleim seit n paar Tag’n wissen se..!?”
“Aha! Und was ist heute anders als sonst, oder was hat sich verschlechtert, dass sie nun uns gerufen haben?” fragte Herbert vorsichtig nach.
“Wie verschlechtert?” schnatterte sie, “Nix hat sich verschlechtert! Aber wissen se, mein Hausarzt is in Urlaub….”
“Bitte was?” rutschte es dem mittlerweile leicht erregten Herbert raus, “Wir zwei ballern hier mit Leuchtreklame durch die halbe Stadt um sie in ihrem Zoo zu besuchen, weil ihr Hausarzt im Urlaub ist und sie seit mehreren Tagen Husten haben?”
Während ich mich auf die Suche nach meiner Kinnlade machte, die mir gerade heruntergefallen war, versuchte mein Beifahrer herauszufinden ob das nun ein schlechter Scherz oder der volle Ernst dieser Quantenphysikerin war. Einige Fragen später hatte er Gewissheit, dass sie alles vollkommen ernst gemeint hatte und so fand er es an der Zeit ihr die Situation einmal zu erläutern:
“Ihre Wohnung hat ungefähr 35 Grad, hier keucht und fleucht es in allen Ecken, es stinkt erbärmlich nach vollgepisstem Hamsterfell und sie wundern sich, dass das ihrer Lunge nicht besonders gut bekommt? Na herzlichen Glückwunsch! Wann haben sie denn hier zum letzten Mal gelüftet?”
Offensichtlich brachte das nicht den gewünschten Erfolg bei der Hilfeersuchenden und so versuchte sie nun, uns ein schlechtes Gewissen einzureden. Die Temperatur müsse so hoch sein, sie könne hier nicht weg um sich im Krankenhaus behandeln zu lassen, sie habe kein Auto, und so weiter. Am interessantesten fand ich ihre Anmerkung, dass sie von “der chemischen Keule”, also Bedarfsmedikation bei akuten Erkrankungen, ohnehin nichts halten würde.
So ganz langsam wurde Herbi die Sache zu bunt. “Sie rufen also einen Rettungswagen an, der mit Blaulicht zu ihnen kommt, weil sie nicht in der Lage sind, die Vetretung ihres Hausarztes anzurufen, die Wohnung wegen der armen Viecher nicht verlassen wollen und aus selbem Grund auch seit Jahren nicht mehr gelüftet haben? Und was erwarten sie jetzt von uns? Dass wir sie hier ambulant mit Bachblüten behandeln oder was?”
“Na, Bachblüten net. Aber könn’ sie mir da net irgendwie sag’n, was ich mach’n kann, damit das aufhört?” – Er hatte es geschafft, dass sie ein klein Wenig an ihrem Handeln zweifelte.
“Gute Frau, passen sie auf: Wir sind ein Rettungswagen! Wir betreiben Notfallmedizin und helfen Menschen in akuten Notlagen. Ich würde ihnen also raten zur nächsten Apotheke zu fahren, Medikamente zu holen und sich dann um einen Hausarzt, der Naturheilverfahren anbietet, zu kümmern. Den können sie dann wegen derartigen Sachen anrufen, aber nicht uns!” klinkte ich mich ein, um die merkwürdige Dame aufzuklären.
Sie schaute etwas bedröppelt drein, schien nicht zu verstehen, warum wir ihr nicht helfen können und kam nun mit der “Na dann verreck’ ich halt”-Tour daher.
Es folgte noch das klassische “Rundfeilen” der Patientin, das Herbi beherrscht, wie kein Anderer, dann erhielt sie eine Wegbeschreibung zur nächsten Apotheke und wurde mit den Worten “Schönen Tag noch!” verabschiedet. Wenige Augenblicke später befanden wir uns wieder im Rettungsbomber.
“Soll die doch mit ihren 85 Hasen nen Gebetskreis machen und versuchen das große Unheil abzuwenden!” gackerte Herbi los, während er eine Leerfahrt dokumentierte und ich versuchte, so schnell wie möglich hier weg zu kommen…