Wie sieht das Leben mit HIV heute aus? Unsere Welt-Aids-Tags-Botschafter Marcel und Kay berichteten von ihren Erfahrungen in einer Talkrunde am 16. November in der Königin-Luise-Schule in Köln. Mit dabei war auch Schauspielerin Joy Lee Juana Abiola-Müller (“Unter uns”)
Aufmerksam lauschen die etwa 200 Schülerinnen und Schüler am Mittwochnachmittag den Erwachsenen auf der Bühne. Die Grundregel „Betroffene erzeugen Betroffenheit“ wissen die HIV-positiven Welt-Aids-Tags-Botschafter Marcel und Kay eindrucksvoll zu bestätigen. Mit bemerkenswerter Offenheit sprechen sie über Sexualität, wie sie sich angesteckt haben und vor allem: wie sich ihr Leben dadurch verändert hat. Für seine Aussage, man lasse sich auch nach der Infektion nicht zu Menschen zweiter Klasse degradieren, bekommt Marcel Szenenapplaus.
Wie es ist, diskriminiert zu werden, durfte die blondgelockte „Unter uns“-Schauspielerin Joy Lee Juana Abiola-Müller schon vor Beginn der munteren Gesprächsrunde erleben. Allerdings nicht wegen HIV, sondern wegen ihres Alters: „Ich wollte im Lehrerzimmer fragen, wo genau die Veranstaltung stattfindet, wurde aber gleich wieder rausgeworfen, weil man dachte, ich sei eine Schülerin“, erzählt sie uns mit einem amüsierten Lächeln.
„Die haben mir damals gesagt, alles wird gut. Aber ich hab nicht dran geglaubt“
In der RTL-Serie spielt sie seit kurzem eine HIV-positive Frau. Ob es deshalb Probleme gab? „Einmal hat man mir in Köln einen dummen Spruch wegen meiner Rolle nachgerufen, ansonsten hab ich aber keine negativen Erfahrungen gemacht.“ Ihre erste Reaktion sei damals gewesen: „Wollen die mich aus dem Drehbuch schreiben und den Serientod sterben lassen?“ Dabei habe sie auch gemerkt, dass sie mit ihrem Schulwissen über HIV/Aids („so etwa Stand der 9. Klasse“) nicht weit komme, wenn sie die Rolle überzeugend spielen wolle. „Ich habe mich dann intensiv mit dem Thema befasst“, erzählt die 20-Jährige. Der Kontakt zur Kölner Aids-Hilfe war schnell hergestellt, dort wurde sie umfassend beraten. „Dieses Gefühl, infiziert zu sein, das kannte ich ja nicht und werde es auch nie kennen“, ist sich die frisch verheiratete Schauspielerin sicher.
Besonders ruhig im Saal wird es, wenn Marcel und Kay von ihren Erfahrungen berichten. Sein positives Testergebnis habe er 1999 bekommen, erinnert sich Kay. Sein Vater sei „geplättet“ gewesen, seine Mutter extrem besorgt. „Die haben mir damals gesagt, alles wird gut. Aber ich hab nicht dran geglaubt, kannte Leute, die zu der Zeit elendig an Aids verreckt sind!“ Doch Kay hat Glück, er überlebt nicht nur die HIV-Infektion, sondern vier Jahre später auch eine Erkrankung an Lymphdrüsenkrebs, die ihn komplett aus dem Arbeitsleben katapultiert und in der Folge berufliche Diskriminierung erleben lässt. Sein schlimmstes Erlebnis? „Eine Affäre hat zu mir gesagt, wie dumm muss man sein, um sich heute noch anzustecken.“ Das habe ihn sprachlos gemacht.
Seine so genannten Freunde wollten ihm nicht mehr die Hand geben
Seine Sprache wiedergefunden hat Marcel aus Essen, der derzeit auf Großflächenplakaten und in einem TV- und Kinospot zu sehen ist. Nach der Diagnose seiner HIV-Infektion habe er sich erst mal „wie tot gefühlt“. Monatelang sei er kaum aus dem Haus gegangen und habe ohne Ende Schokolade gegessen. Bitter auch: Viele soziale Kontakte seien damals in die Brüche gegangen, weil seine so genannten Freunde ihm nicht mehr die Hand geben wollten. Als sich Marcel mit einem Hilferuf an seine Eltern wendet, muss er feststellen, dass sie mit der Situation völlig überfordert sind. „Ich dachte meine Mutter würde mir helfen, aber am Ende musste ich eher meinen Eltern Kraft geben und sie wieder aufbauen.“ Offenbar hat ihm das aber Stärke verliehen, die er jetzt an andere weiterzugeben versucht. An die Schüler gewandt appelliert er: „Ihr seid mitverantwortlich dafür, wie sich eure Freunde fühlen, wenn sie sich infiziert haben.“
Das krasseste Erlebnis hatte Marcel jedoch beim Zahnarzt. „Sie sind positiv? Dann kann ich Sie nicht behandeln!“, musste sich der junge Essener anhören und durfte gleich wieder gehen. „Danach haben die den kompletten Behandlungsstuhl desinfiziert“, erinnert sich Marcel, was viele Schüler mit einem Kopfschütteln quittieren.
„Wem sag ich’s? Wann sag ich’s? Und wie sag ich’s?“
An dieser Stelle hakt Dirk Meyer ein, AIDS-Referent der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. Gegen solche Ignoranz bei Ärzten müsse angegangen werden, da stimme ihm auch der neue Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr (FDP) zu. Auf einer Pressekonferenz zur Vorstellung der WAT-Kampagne habe dieser die Ärzte in die Pflicht genommen, jeglicher Ausgrenzung entgegenzuwirken.
Attila Cakar, der seit fünf Jahren hauptberuflich bei der Kölner Aids-Hilfe „präventioniert“, kann die Gefühlslage der beiden Kampagnen-Botschafter gut nachempfinden. Derzeit leitet er eine Selbsthilfegruppe junger schwuler HIV-Positiver, und die häufigste Frage sei auch da: „Wem sag ich’s? Wann sag ich’s? Und wie sag ich’s?“ Durch seine Präventionsarbeit vor Ort entdeckt er auch hier im Saal einige bekannte Gesichter.
Dass junge Schwule gezwungen seien, sich bei ihrem ohnehin schwierigen Coming-out auch gleich noch mit HIV und Aids auseinandersetzen, findet Thomas Haas, Geschäftsführer des schwul-lesbischen Jugendzentrums Anyway, bedauerlich. Man sei „ein ganz normales Jugendzentrum“, wo es Freizeitangebote gebe, aber auch Möglichkeiten, sich zu engagieren. Auf jeden Fall biete das Anyway aber einen „sicheren Rückzugsraum“ für junge Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender, macht Haas Werbung in eigener Sache. „Bei uns gab es noch nie abwertende Reaktionen, wenn sich jemand als positiv geoutet hat.“
Ein schönes Kompliment an alle, die sich seit Jahren in der HIV-Prävention engagieren
Die parlamentarische Staatssekretärin im Bundesgesundheitsministerium, Ulrike Flach, überließ das Gespräch weitgehend den Fachleuten in der Runde, zeigte sich jedoch „sehr stolz“, dass man in Deutschland so niedrige Neuinfektionszahlen habe. Dies sei dank gemeinsamer Anstrengungen „unabhängig von der politischen Couleur“ erreicht worden, gab die Politikerin ein seltenes Lob auch an die Nicht-Regierungsparteien – und an die Botschafter der Kampagne, für die es „auch heute noch ein mutiger Schritt“ sei, sich derart in die Öffentlichkeit zu wagen.
Etwas schüchterner geben sich die Schülerinnen und Schüler der Königin-Luise-Schule in der anschließenden Fragerunde. Nur wenige wagen sich ans Mikrofon. Was für eine Reaktion sich die positiven Kampagnenbotschafter wünschen würden, wenn sie von ihrer Infektion erzählen? Warum Schwulsein so sehr mit Aids vermengt werde? Ob Babys HIV-positiver Mütter automatisch auch infiziert seien? Keine Frage bleibt unbeantwortet. Dabei zeigen sich die Schülerinnen und Schüler bestens informiert, als sie per Handzeichen mögliche Übertragungswege bestätigen oder ausschließen sollen.
Für den Moderator des Abends, Ralph Erdenberger, der sonst auf WDR 5 seine diskussionsfreudigen Zuhörer über das Tagesgeschehen streiten lässt, erweist sich der Kampf gegen die außer Rand und Band geratene Mikrofontechnik deshalb als problematischer als der Kampf gegen die Unwissenheit. Eigentlich ein schönes Kompliment an alle, die sich seit Jahren in der HIV-Prävention engagieren.
Marc Kersten