Zum 25. Jahrestag der AIDS-Hilfe Lübeck diskutiert eine prominent besetzte Runde über die juristische Verfolgung von HIV-Infektionen
Soll die Polizei künftig auch den Geschlechtsverkehr kontrollieren und eine Kondompflicht durchsetzen? Das Big-Brother-Szenario scheint gar nicht so abwegig, wie eine Podiumsdiskussion zum 25. Jubiläum der Lübecker AIDS-Hilfe zeigte. Immer wieder landen in Deutschland Menschen vor Gericht, weil sie einvernehmlich Sex hatten. Prominentestes Beispiel: Nadja Benaissa. Ein eifriger Staatsanwalt hatte die No-Angels-Sängerin 2010 medienwirksam verhaften lassen, kurz vor einem Konzertauftritt. Der Vorwurf Benaissa habe ungeschützen Geschlechtsverkehr mit mehreren Männern gehabt, obwohl sie bereits von ihrer HIV-Infektion wusste. Die Musikerin wurde zu einer Freiheitsstrafe auf Bewährung verurteilt.
Auch die Lübecker Diskussionsrunde, die sich am 26. Oktober im Hotel Scandic versammelt hatte, kam um den Fall Benaissa nicht herum. Denn der damalige Medienrummel hat Millionen Menschen erreicht und ihnen eine klare Botschaft vermittelt: In Deutschland droht jedem HIV-positiven Menschen ein Verfahren, sobald er von seiner Infektion weiß und ungeschützten Sex hat. Für die HIV-Prävention war das ein schwerer Rückschlag.
„Das Urteil hat die Verantwortung für Safer Sex allein zu den Positiven verlagert“
„Das Urteil hat die Verantwortung für Safer Sex allein zu den Positiven verlagert“, kritisierte Sylvia Urban vom Vorstand der Deutsche AIDS-Hilfe. „Die Botschaft war: Der negative Partner muss sich nicht schützen.“ Das widerspreche allen bisherigen Präventionsbotschaften, die jeden Einzelnen zu einem verantwortungsvollen Umgang mit Sexualität zu ermutigen versuchten. „Angst vor Strafe und Diskriminierung waren noch nie eine Motivation für gesundheitsbewusstes Verhalten.“
Sylvia Urban (DAH-Vorstand) und Jan Feddersen (Journalist) zum Fall Benaissa
Das sehen deutsche Gerichte und Staatsanwaltschaften ganz anders. Seit einem wegweisenden Urteil des Bundesgerichtshofs von 1988 gilt: Wenn sich ein HIV-Positiver vor dem Sex nicht outet, gehen die Justizbehörden davon aus, dass er eine mögliche Infektion billigend in Kauf genommen hat. Die Folge: Fast alle bisherigen Verfahren endeten mit einer Verurteilung des positiven Beklagten.
Eine höchst fragliche Schlussfolgerung. Denn der genaue Ablauf einer HIV-Infektion ist viel zu komplex und ungewiss, als dass eine Person die andere „absichtlich“ anstecken könnte. Ungeschützter Sexualverkehr führt nicht automatisch zu einer Infektion. In den Urteilen heißt es deshalb, der HIV-Positive habe mit einer Übertragung des Virus „gerechnet“ oder sie „billigend in Kauf genommen“ – so die juristischen Fachbegriffe.
„Die meisten Infektionen erfolgen zwischen Menschen, die ihren HIV-Status gar nicht kennen“
Eine „Verbiegung der Justiz“ nennt der Kölner Rechtsanwalt Jacob Hösl diese Praxis. Denn nur bei HIV wird die Übertragung einer Krankheit zum juristischen Streitfall. Bis heute wurde zum Beispiel keine einzige Syphilis-Infektion untersucht, obwohl auch diese früher tödlich verlaufen konnte. Erst HIV wurde ein Fall für die Staatsanwaltschaft. Diesen modernen Versuch, den komplexen Vorgang einer Virusübertragung juristisch zu fassen, hält Hösl für irreführend und ungerecht. „Die meisten Infektionen erfolgen zwischen Menschen, die ihren HIV-Status gar nicht kennen“, betont der Rechtsanwalt. „Die meisten Verfahren aber treffen Personen, die von ihrer Infektion wissen und in der Regel weniger ansteckend sind, weil sie sich behandeln lassen.“
Die Härte des Gesetzes spüren also ausgerechnet jene, die so vernünftig waren, einen HIV-Test zu machen. Denn wie bei jedem anderen juristischen Verfahren gilt: Nichtwissen schützt vor Strafe. Die logische Folge: Wer in der Zeitung liest, dass HIV-Positive unter großer medialer Anteilnahme verklagt werden, wird sich zweimal überlegen, ob er einen HIV-Test macht – oder ob er sich vor seinem Partner outet. Denn ab dann droht die Strafverfolgung. „An diesem Punkt wird die HIV-Prävention pervertiert“, kritisierte deshalb Schleswig-Holsteins Landesgesundheitsminister Heiner Garg.
Rechtsanwalt Jacob Hösl – Hilft das Strafrecht dem Kläger dabei, seine HIV-Infektion zu verarbeiten?
In einem Punkt waren sich alle Diskussionteilnehmer einig: Ein Strafverfahren ist kein geeignetes Mittel, um die zwischenmenschlichen Konflikte zu lösen, die in der Regel zu einer Anzeige führen. „Es sind nicht immer nur rationale Gründe, die zu einem Verfahren führen“, berichtete die Medizinerin Annette Haberl, die an der Universität Frankfurt am Main HIV-positive Frauen betreut. „Am Anfang steht häufig eine Beziehung, die nicht mehr funktioniert. Der neu infizierte Partner will vielleicht Rache nehmen oder Genugtuung finden.“
Ein Strafverfahren ist kein geeignetes Mittel, um die zwischenmenschlichen Konflikte zu lösen
Die vor Gericht verhandelten „Rosenkriege“ vermittelten ein falsches Bild vom Ablauf einer HIV-Infektion. Die überwältigende Mehrheit ihrer positiven Patientinnen gehe sehr verantwortungsvoll mit der HIV-Infektion. „Sie machen sich viele Gedanken, wenn sie jemanden Neues kennenlernen“, so Haberl. Es falle ihnen aber schwer, das Thema HIV anzuschneiden. „Die Frauen haben Angst, mit ihrem Outing den Partner zu verlieren.“ In den Gesprächen mit ihren HIV-Patientinnen hat die Wissenschaftlerin auch einen großen Unterschied zwischen dem intellektuellen und dem emotionalen Umgang mit Safer Sex festgestellt. „Sex ist in unserem Alltag so allgegenwärtig, aber im individuellen Einzelfall wird kaum darüber gesprochen.“
Holger Wicht (DAH-Pressesprecher), Annette Haberl (Universität Frankfurt/Main) über den verantwortungsbewussten Umgang mit einer HIV-Infektion
In Berichten über Verfahren wegen HIV-Infektionen sind die Rollen dagegen meist fest verteilt: Auf der einen Seite das unschuldige, bisher HIV-negativ Opfer. Auf der anderen der verantwortungslose HIV-positive Täter. „Den Desperado, der ganz bewusst andere Menschen infiziert, den gibt es gar nicht“, betont Siefrid Schwarze, selbst positiv und Herausgeber der HIV-Patientenbroschüre „Projekt Information“.
Siegfried Schwarze und Jacob Hösl über Rosenkrieg als Ursache für HIV-Strafverfahren
Das Fazit der Lübecker Podiumsdiskussion: Die Wirklichkeit einer HIV-Infektion ist hochkomplex und das Strafrecht deshalb ein grober Keil, um das sexuelle Verantwortungsbewusstsein der Bürgerinnen und Bürger zu stärken. Auch ein Abschreckungseffekt – eine wichtiges Ziel des Strafrechts – ist in Sachen HIV nicht festzustellen. Das legen Untersuchung aus den USA nahe. Dort lassen sich die Auswirkungen von Strafvorschriften gut vergleichen, weil in ähnlich strukturierten Bundesstaaten unterschiedliche Gesetze gelten. In den benachbarten Staaten New York und New Jersey zum Beispiel ist die Zahl der HIV-Neuinfektionen ähnlich hoch – obwohl in New Jersey eine Übertragung des HIV-Virus strafbar ist. „Offensichtlich ist die Bereitschaft, ein Kondom zu verwenden, in New Jersey trotzdem nicht höher“, bilanzierte Jacob Hösl.
Ein Abschreckungseffekt mit Hilfe des Strafrechts ist in Sachen HIV nicht festzustellen
Das erstaunlich einmütige Podium musste gegen Ende der lebhaften Diskussion dennoch feststellen, dass die deutsche Justiz trotz aller problematischen Folgen an einer Kriminalisierung von HIV-Infektionen festhält. „Ich bin nicht optimistisch, dass die Justiz in absehbarer Zeit einen Weg zurückfindet“, so Jacob Hösl.
Einen Grund für die seltenen, aber regelmäßigen Klagen sahen die Diskutanden im hohen Sicherheitsbedürfnis moderner Gesellschaften. „Auch Sex soll kein Risiko mehr beinhalten“, kritisierte Siegfrid Schwarze diesen „Sicherheitsfetischismus“. Dabei gerate in Vergessenheit, dass Sexualität seit jeher mit Risiken verbunden sei – auch jenseits von HIV. „Zum Glück ist der Sexualtrieb der Menschen stärker als der Selbsterhaltungstrieb“, so Schwarze, „denn sonst gäb es uns Menschen schon lange nicht mehr – weil wir vor lauter Sicherheitsbedürfnis schon aufgehört hätten zu poppen.“
“Wir müssen wieder Verantwortung für uns selbst übernehmen”
Auch Rechtsanwalt Hösl erhofft sich eine lebhaftere öffentliche Diskussion über die Risiken von Sexualität: „Wir müssen klären, welche Gefahren wir bereit sind, in Kauf zu nehmen und welche nicht.“ Mit Strafverfahren infolge einer HIV-Infektion vermittele die Justiz den irreführenden Eindruck, als sei Sexualität absolut sicher zu organisieren. „Ich würde mir wünschen, dass wir an den Punkt kommen, wo wir wieder Verantwortung für uns selbst übernehmen können“, so Hösl. „Wir dürfen nicht der Auffassung erliegen, dass uns der Staatsanwalt vor allen Gefahren retten kann.“
Die notwendige Diskussion dürfte die Aidshilfen auch in den nächsten Jahren noch beschäftigen. „Wir müssen die gängigen Bilder von HIV verändern“, forderte Sylvia Urban für die DAH. Nur so könnten Staatsanwälte und Richter erkennen, dass Strafverfahren nicht der richtige Weg sind, um eine HIV-Infektion aufzuarbeiten. „Wir sollten die Bedrohlichkeit aus der HIV-Debatte nehmen und in die Köpfen und Herzen vermitteln, dass bei Sexualität 100 Prozent der Verantwortung bei mir liegt und 100 Prozent bei meinem Gegenüber.“
Philip Eicker