Ich habe einen Traum. Ich sehe Menschen in hellen und weiten Räumen, die miteinander sprechen. Nicht gehetzt, sondern so lange wie es Zeit braucht und empathisch zugewandt. Ich sehe junge Ärzte – Anfänger – die nachts ruhig schlafen, weil auf Station ein Mentor auf sie wartet, der zeigt, “So wirds gemacht!”. Ich sehe Patienten, die sich in guter Obhut wissen, zufrieden sind und nicht ständig meckern müssen. Ich sehe ein Team – vollbesetzt – aus Schwestern, Ärzten und Pflegern, die miteinander Kaffee trinken und sich keiner von ihnen ständig am Ego kratzt. Ich sehe eine Klinikleitung, die lieber in Personal statt in den Eingangsbereich investiert und eine Krankenhauskantine mit Essen, das schmeckt, auch ohne vier Sterne…
“Nächster Halt Hauptbahnhof Stuttgart!”, ich schrecke auf und mache mich zum Aussteigen bereit, gehe zum S-Bahnhof und hechte in die Linie 5, um mich ein letztes Mal nach Feuerbach bringen zu lassen. Jeder Schritt trägt mich ein Stück näher zur Klinik, auch wenn sich heute noch einmal die Türen des Georg Thieme Verlags für mich öffnen werden, denn heute ist mein letzter Praktikumstag.
Ich schweife mit meinen Gedanken wieder ab. Damals im ersten Semester musste jeder das Wahlfach Klinik für Einsteiger belegen, ich wählte Kardioanästhesie. Richtig aufgeregt war ich davor, denn endlich sollte ich Unterricht von richtigen Ärzten haben und nicht nur von Anatomie- oder Physikprofessoren! Denn hatten wir nicht alle deswegen das Medizinstudium begonnen, um von den großen Heilern zu lernen, wie man Menschen rettet?
Doch meine Enttäuschung war groß gewesen. Alle Dozenten in diesem Seminar – bis auf einen einzigen – schienen mir sarkastisch, fertig mit dem Leben, mit Augenringen behaftet oder verzweifelt gleichgültig. Einer von ihnen schleppte uns sogar über die Intensivstation und blieb immer vor den Betten mit den kränkesten Patienten darin stehen. Er kam mir wie ein leibhaftiger Buddha in Intensiv-Klamotten vor: “Sehen Sie her! Alles Leben ist Leiden und als Arzt werden Sie ganz besonders leiden und Leiden verursachen. Je früher Sie das einsehen, desto eher werden Sie die Welt mit einem traurigen Dackelblick wie ich sehen können, weil Sie Erleuchtung über ihr ärztliches Dasein gefunden haben.” Während seiner Ausführungen über die Rolle des Arztes und der Medizin in unserer Gesellschaft breitete er seine Arme wie große Schwingen aus und erinnerte mich an eine schlechte Jesus-Imitation.
Nach diesem Nachmittag schwor ich mir: Ich wollte mir meine Begeisterung für die Medizin durch solche Miesepeter nicht klauen lassen und nach dem Studium emotional auch nicht wie ein ausgetrockneter Baggersee aussehen.
Ein Semester nach dem anderen arbeite ich ab und das PJ verging wie im Flug. Und nun ist es soweit, ich bin Ärztin! Und manchmal frage ich mich, was aus dem Ersti “Maggie” und ihren Ambitionen geworden ist. Doch das wird sich erst im Laufe der Jahre zeigen. Im Moment freue ich mich auf meinen zukünftigen Job – gerade auf die Arbeit mit den Patienten. Obwohl der Gedanke demnächst auf einer 20-Betten-Station alleine zu stehen, auch gehörig Respekt einjagt, je näher es rückt. Schon im PJ gehörte ich nicht zu diesen Weißkittel-Orgasmus-Typen, die beschwingt ihre flatternden Kittel siegesgewiss und mit verklärtem Blick in der Kantine zur Schau tragen. Und mit ihrer Art den Kopf nach hinten zu werfen, zu verstehen geben, jede Viggo mit einem Fingerschnippen butterweich durchs Fettgewebe hindurch in einem venösen Blutgefäß zu platzieren und sowieso über allen Schwierigkeiten zu schweben.
Doch nicht jeder von uns Ärzten muss ja schon zu Beginn eine perfekt ausgelernte Elliot Reid oder ein Dr. John Carter in seinen besten Jahren sein, um erfolgreich zu sein, nicht wahr?! Ich wünsche mir natürlich gut in meinem Job als Ärztin zu sein, und ich hoffe, dabei auch immer ein fühlender Mensch zu sein – ohne sarkastisch oder verzweifelt gleichgültig zu werden!
Allen Ärzte-Erstis wünsche ich einen gelingenden Start ins Arbeitsleben!
Eure Maggi