Auf den Positiventreffen tanken Menschen mit HIV Selbstbewusstsein. Das Waldschlösschen bei Göttingen bietet den perfekten Rahmen. Ein Bericht aus der Provinz von Phillip Eicker.
Die Entschleunigung beginnt schon auf dem Weg zum Waldschlösschen. Der Regionalbus, Abfahrt Göttinger Bahnhof, kommt nur langsam vorwärts. Die schmale Straße schlängelt sich durch weizengelbe Täler und über waldige Hügel. Weiße Fachwerkhäuser ducken sich unter Felsvorsprünge aus rotem Sandstein. Am Dorfausgang von Diemarden streikt ein Traktor, die beiden Hänger stehen quer und versperren den Weg. Nach einem kurzen Gespräch mit dem Bauern wagt der Busfahrer den Umweg durchs Feld. Nächster Halt: Akademie Waldschlösschen. Ganz plötzlich taucht es im Wald auf, Fachwerkfassade, Mansardendach, ein rotgeziegeltes Türmchen. Ein findiger Unternehmer hat das auffällige Haus 1902 als Ausflugsgaststätte im historisierenden Stil erbaut. Das Prinzip „Waldeseinsamkeit“ funktioniert auch 110 Jahre später noch und macht das kleine Schloss zum idealen Ort für Treffen von Menschen mit HIV.
Sicherheit in der Abgeschiedenheit
„Das Waldschlösschen wird von vielen als eine Oase empfunden“, schwärmt Besucherin Tanja*. „Die Natur drum rum, der eingeschränkte Handyempfang – als Gruppe fühlt man sich hier wie unter einer Schutzglocke.“ Die 25-Jährige weiß noch genau, wie wichtig ihr diese Abgeschiedenheit war, als sie zum ersten Mal zu einem Treffen für junge Positive kam. „Viele haben anfangs große Probleme, überhaupt auszusprechen, dass sie HIV-positiv sind. Aber in diesem geschützten Rahmen können sie sich öffnen.“ Konstantin Leinhos vom Organisationsteam bestätigt diesen Eindruck: „Besonders bei unseren Treffen für Berufstätige sind viele Teilnehmer komplett ungeoutet. Hier im Waldschlösschen fühlen sie sich sicher.“
Das liegt auch daran, dass HIV für alle Mitarbeiter, vom Mann am Empfang bis zur Küchenhilfe, etwas ganz Alltägliches ist. Und man befindet sich in einer Einrichtung der Schwulenbewegung. Das Anderssein und die Reflexion verschiedener Lebensstile sind hier an der Tagesordnung. Entsprechend lang sind die Wartelisten, Anmeldungen kommen aus der ganzen Republik.
„Manchmal entstehen richtige Kunstwerke“
Stark nachgefragt sind derzeit Seminare für Berufstätige. Andi* hat schon mehrere besucht. „2007 habe ich mich selbstständig gemacht“, erzählt der 38-jährige Hesse. „Der ganze Input, den ich mir damals zusätzlich geholt habe, kam von hier. Dafür bin ich sehr dankbar.“ Daneben hat der Ergotherapeut aber immer auch Zeit für Massageworkshops gefunden. „Nicht nur, weil mir das beruflich liegt, sondern auch, um mir etwas Gutes zu tun.“
Neben nützlichem Faktenwissen, etwa zur rechtlichen Situation oder zur medizinischen Versorgung, sollen die Treffen immer auch das Wohlbefinden und die Kreativität ihrer Besucher steigern – mit Improvisationstheater, Video-Workshops oder „Arbeit am Stein“. Lothar ist ein besonders fleißiger Steinmetz. Drei Skulpturen im Garten des Waldschlösschens zeugen davon, dass der Berliner seit über 20 Jahren die Positiventreffen besucht. „Manchmal entstehen richtige Kunstwerke“, berichtet der 59-Jährige, „und manchmal will ich nur was rauslassen und auf den Stein einschlagen.“ Auch Malen hat Lothar bei einem Positiventreffen gelernt. „Das hat mir so viel Spaß gemacht, dass ich später eine Malgruppe für Positive ins Leben gerufen habe.“ Nächstes Jahr feiern die Berliner Hobbykünstler 20-jähriges Jubiläum.
„…eine Art Entwicklungsabteilung für die DAH“
Lothars Engagement zeigt: Die Treffen in der niedersächsischen Provinz prägen auch die Aidsarbeit im restlichen Land. „Wir machen hier Hilfe zur Selbsthilfe“, betont Konstantin Leinhos, „und die Besucher geben ihr im Waldschlösschen erworbenes Wissen auch weiter – viele engagieren sich in Selbsthilfegruppen oder Netzwerken wie ‚Jung und positiv‘.“ Die Fortbildung im Waldschlösschen ist dabei keine Einbahnstraße: auch die Leiter und Mitglieder des verantwortlichen Vereins Positiv e.V. können etwas lernen. „Beim Abendbrot oder beim Kaffee auf der Terrasse unterhalten wir uns über die Anliegen, die den Leuten gerade auf den Nägeln brennen“, berichtet Leinhos. Frühzeitig spürt der Verein so Themen auf, die einige Jahre später in Vorträgen und Leitfäden alle HIV-Positiven in Deutschland erreichen sollen.
„Die Positiventreffen sind eine Art Entwicklungsabteilung für die Deutsche AIDS-Hilfe“, lobt DAH-Vorstandsmitglied Carsten Schatz, der auch Mitglied bei Positiv e.V. ist. Eine wichtige Erkenntnis der letzten Jahre: Die meisten Positiven wollen und können arbeiten. Aber die Arbeitswelt ist darauf nicht darauf vorbereitet. „Die Lebensqualität mit HIV hat sich stark verbessert“, so Schatz, „aber an der Umgangsweise mit Positiven, am Zwang zum Versteckspielen hat sich nichts geändert.“
Umso wichtiger sind Orte wie das Waldschlösschen, wo Positive Selbstbewusstsein tanken können. Auch Heike (47) genießt das Angebot. Bei ihr zu Hause, in einem Dorf bei Hamburg, wissen nur engste Freunde von ihrer Infektion. „Wenn ich nicht will, dass meine 12-jährige Tochter ausgegrenzt wird, muss ich die Schnauze halten“, meint sie lapidar. Weil Heike im Stau stand, war sie zu spät zum Begrüßungsessen gekommen. „Der ganze Saal war schon voll, auf den ersten Blick nur schwule Männer“, berichtet sie. „Gleich am ersten Tisch hab ich schüchtern gefragt, ob ich mich dazusetzen darf – und sofort gehörte ich dazu. Das war toll. So was gibt Kraft.“
*Name geändert