Glutamat – viele von Ihnen werden bereits von diesem Geschmacksstoff gelesen haben, meist in Verbindung mit dem “Chinarestaurant-Syndrom”, das eigentlich Natriumglutamat-Allergie heißt. Nicht das gesündeste, was man seinem Körper geben kann, sollte man meinen.
Doch nun kommen gewaltige Nachrichten von der „Berliner Morgenpost“: Glutamat, das seit vielen Jahren so verteufelt wird, steckt angeblich in den „gesündesten Lebensmitteln“.
(morgenpost.de/web-wissen/article1822437/Glutamat-viel-Geschmack-viele-Vorurteile.html)
Sogar die Muttermilch enthält Glutamat. Wie kann es da zu einem „Chinarestaurant-Syndrom“ kommen?
Die Argumentation der Zeitung: Nicht zuletzt verzehre ein Großteil der Asiaten Glutamat über glutamathaltige Soßen, und keiner von denen klagt über Kopfschmerzen etc. Und was die Wissenschaftler angeht, die sich damals schon gierig auf dieses Thema gestürzt hatten, die beginnen von nun an, andere Einsichten zu gewinnen. Denn sie konnten beweisen, dass es dieses Syndrom überhaupt gar nicht gibt! Um dies zu untermauern, führt man „kontrollierte klinische Studien“ an, bei denen schließlich keiner der Versuchspersonen durch den Genuss von glutamathaltigen Speisen ernsthaft erkrankte.
Soweit die guten Nachrichten. Die schlechten Nachrichten jedoch sind, dass die Wissenschaftler der „Berliner Morgenpost“ nicht früh genug aufgestanden zu sein scheinen. Denn es gibt keinen einzigen ernstzunehmenden Hinweis, dass Glutamat gesund ist. Glutamat ist notwendig, da es als Glutaminsäure (Glutamat ist das Salz der Glutaminsäure) wichtiger Bestandteil von Aminosäuren ist. Ohne Glutaminsäure gäbe es viele Proteine nicht.
Aber Glutaminsäure ist auch ein Botenstoff im zentralen Nervensystem, hat also eine Doppelfunktion. Hier wird es in den Synapsen freigesetzt und bindet dann an spezifische Rezeptoren. Sie ist die einzige Aminosäure, die im Gehirn biochemisch aktiv ist. Das heißt, dass ohne die Glutaminsäure auch wichtige Funktionen des Nervensystems ausfallen würden.
Die Dosis macht das Gift
Diese Grundlagen allerdings sagen nichts aus über den Grad der Unschädlichkeit von Glutamat. Etwas, was für unseren Organismus notwendig ist, muss nicht notwendigerweise auch unschädlich sein (Vitamin A ist ebenso notwendig und in hohen Konzentrationen extrem toxisch). Hier kommen die Mengen ins Spiel, die über die Schädlichkeit von Substanzen entscheiden. Aber nicht nur die Menge macht´s.
Ein weiterer Faktor ist der Zeitraum, in dem man große Mengen einer Substanz zu sich genommen hat. Von daher sind die zitierten Studien mehr als merkwürdig (man könnte fast sagen: lächerlich), bei denen kontrolliert Menschen glutamathaltiges bzw. glutamatfreies Essen aufgetischt wird, ohne dass die Probanden wissen, ob sie nun „glutamatisiert“ werden oder nicht. Danach beobachten die Studienbetreiber die Probanden kurzzeitig und schauen dabei auf negative Wirkungen.
Doch diese werden innerhalb einer kurzen Studie kaum eintreten, da diese Phänomene erst nach Jahren überhöhter Glutamat-Zufuhr zu erwarten sind. Und weil keiner der Testprobanden nach glutamathaltiger Mahlzeit tot vom Stuhl gefallen ist, schließen die Autoren (oder ist es doch nur die Zeitung, die zu dem Schluss kommt?), dass Glutamat ein Segen für die Menschheit ist.
Eine neue Arbeit aus dem Wissenschaftslager jedoch sieht diese Dinge wieder einmal vollkommen anders (Ich habs schon im Ohr: “Ach, die wollen doch auch nur “Forschungsgelder akquirieren””). Diese Leute behaupten – übrigens, wie viele andere auch zuvor – dass die Glutaminsäure in hohen Dosierungen im Gehirn zu einer Art „Tsunami“ an Natrium und Calcium in den Nervenzellen führt. Besonders die hohen Konzentrationen an Calcium in den Zellen setzen deren Mitochondrien außer Gefecht, aktivieren Proteasen (Enzyme, die Proteine spalten), akkumulieren freie Radikale und setzen Stickoxid frei. Diese Ereignisse sind ein Todesurteil für die betroffene Zelle (Link zur Studie: http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/22044990). Und wenn die Glutamatzufuhr weiter geht, Tag für Tag, Woche für Woche, dann ist mehr als nur eine Zelle von diesen Vorgängen betroffen.
Bevor ich als Panikmacher gelte:
Natürlich stellt die Zufuhr an Glutaminsäure über natürliche Nahrungsmittel kein Problem dar, da hier physiologische Konzentrationen aufgenommen werden, die in keinem Vergleich zu den Glutamatzusätzen seitens der Lebensmittelindustrie stehen. Denn die will uns nicht mit notwendigen Aminosäuren füttern, damit wir gesund bleiben – oder?. Vielleicht will die Lebensmittelindustrie mit dem Einsatz des Geschmacksverstärkers auch einfach nur erreichen, dass auch Pappe noch nach einem leckeren Kotelett schmeckt, damit man die Pappe teuer verkaufen kann?
Die Gretchenfrage
Jetzt fragt sich jeder, wer den nun recht hat, die Berliner Zeitung oder die Wissenschaftler?
Wenn es um Wissenschaft geht, würde man reflexartig den Wissenschaftlern das Vertrauen aussprechen, denn das ist ihr Fachgebiet. Daher nimmt die Zeitung auch einen geschickten Umweg, um die Wissenschaftler zu verunglimpfen und das Glutamat hoch leben zu lassen: Sie entdecken miese Intentionen bei den Wissenschaftlern.
So schreibt das Blatt im fraglichen Artikel:
„Andere Wissenschaftler griffen gierig nach dem vermeintlich neuen Leiden, gab es ihnen doch die Möglichkeit, Forschungsgelder zu akquirieren.“
Nachdem also jetzt die glutamatkritischen Forscher über ihre Geldgier gestolpert sind, kommen die aufrechten Wissenschaftler aus der Morgenblattredaktion zu Wort und führen ihre eigenen Arbeiten im Chinarestaurant durch, wie oben beschrieben.
Wenn auch diese merkwürdige Versuchsanordnung zu drolligen Ergebnissen kommt, ein wichtiges Ergebnis steht schon vor dem Beginn der Chinarestaurant-Posse fest: Glutamat ist gut für uns alle, denn „Lebensmittelhersteller können so an teuren Rohstoffen wie Fleisch, Shrimps oder Käse sparen“. Diese Feststellung wurde in einem weiteren Artikel der „Berliner Morgenpost“ getätigt, der nur 2 Tage zuvor in der Online-Ausgabe unter dem Titel: „So schädlich ist Glutamat im Essen wirklich“ (morgenpost.de/web-wissen/gesundheit/article1042992/So_schaedlich_ist_Glutamat_im_Essen_wirklich.html) erschienen war. Der Unterschied zwischen altem und neuem Artikel ist die wesentlich differenziertere Diskussion des Sachverhalts in dem Vorgängerartikel.
Fazit: Ein Schelm, wer böses dabei denkt.
Denn die stetige Wiederholung (“das hab ich doch schon mal irgendwo gelesen?”) hilft mit Sicherheit, dem Glutamat ein wenig des Schreckens zu nehmen.
Doch wenn Wissenschaftler das Glutamat verdammen, nur um an Forschungsgelder zu kommen, dann gilt diese “Spielregel“ vor allem für die, die den Wissenschaftlern dies zum Vorwurf machen. Denn Zeitungen drucken, wofür sie bezahlt werden. Das gilt für die Boulevardblättchen wie auch für einen Teil der wissenschaftlichen Fachzeitschriften.
Wenn man durch billiges Glutamat „teure Rohstoffe“ in der Nahrungsmittelproduktion einsparen kann, dann ist das dem Bezahlenden allemal 2 Artikel in 2 Tagen wert. Von der Machart der Artikel könnte man auf den dummen Gedanken kommen, dass der erste Artikel nicht “dumm” genug geschrieben war. Der Zweite war dann ganz nach dem glutamathaltigen Geschmack der Lebensmittelindustrie.