Gesundheit braucht Solidarität. Lebenslänglich!

Carsten Schatz in der Paulskirche

Carsten Schatz in der Paulskirche. Foto: AIDS-Hilfe Frankfurt

In diesem Jahr stand die zentrale Veranstaltung der AIDS-Hilfe Frankfurt zum Welt-Aids-Tag in der Paulskirche unter dem Motto „Gesundheit, lebenslänglich“. In seinem hier dokumentierten Redebeitrag setzt DAH-Vorstandsmitglied Carsten Schatz dem in der Gesellschaft weit verbreiteten und von der Gesundsheitspolitik geförderten Ansatz, dem Einzelnen die Verantwortung für seine Gesundheit zuzuschreiben, seine Sicht der Dinge entgegen: Ohne Solidarität hätten die wesentlichen Fortschritte im Umgang mit der HIV-Infektion in Deutschland nicht errungen werden können, und nur mit Solidarität wird es gelingen, Missstände wie die fehlenden Spritzentauschprogramme zu beseitigen. Denn: „Da liegt noch ne Menge Arbeit auf der Straße“.

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Freundinnen und Freunde,

ich möchte noch einige Momente zu meiner Vorstellung hinzufügen. Ich bin seit fast 20 Jahren HIV-positiv, also chronisch krank, wie eben dargestellt wurde, aber ich fühle mich gesund. Außerdem bin ich ich ein chronischer Weltverbesserer.

Als ich zu Beginn des Jahres eingeladen wurde, an der traditionsreichen Veranstaltungen der Frankfurter AIDS-Hilfe in der Paulskirche teilzunehmen, habe ich mich sehr gefreut, und nach (auch für mich) bewegten Monaten in diesem Jahr freue ich mich, hier zu Ihnen sprechen zu können.

Gesundheit, lebenslänglich! ist der heutige Abend überschrieben und spielt auf Diskurse an, die seit einigen Jahren in unserer Gesellschaft geführt werden. Dabei wird Gesundheit im Wesentlichen als ein Zustand der Abwesenheit von Krankheit betrachtet und dem Individuum die Verantwortung zugeschrieben, für diesen Zustand so lange wie möglich zu sorgen. Das geschieht ganz unterschiedlich. Appellativ: Rauchen gefährdet ihre Gesundheit! Auch durch Drohungen – zumindest für mich ist es eine – Rauchen lässt ihre Haut altern! – oder auch durch die Verweigerung gesellschaftlicher Solidarität. So wurden bereits vor einigen Jahren Folgeerkrankungen von Tätowierungen oder Piercings aus dem Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen gestrichen.

Meine These dagegen ist: Gesundheit braucht Solidarität. Lebenslänglich!

Die Ottawa-Charta der Weltgesundheitsorganisation WHO aus dem Jahre 1986 formulierte andererseits:  „Um ein umfassendes körperliches, seelisches und soziales Wohlbefinden zu erlangen, ist es notwendig, dass sowohl einzelne als auch Gruppen ihre Bedürfnisse befriedigen, ihre Wünsche und Hoffnungen wahrnehmen und verwirklichen sowie ihre Umwelt meistern bzw. verändern können. In diesem Sinne ist die Gesundheit als ein wesentlicher Bestandteil des alltäglichen Lebens zu verstehen und nicht als vorrangiges Lebensziel. Gesundheit steht für ein positives Konzept, das in gleicher Weise die Bedeutung sozialer und individueller Ressourcen für die Gesundheit betont wie die körperlichen Fähigkeiten. Die Verantwortung für Gesundheitsförderung liegt deshalb nicht nur bei dem Gesundheitssektor, sondern bei allen Politikbereichen und zielt über die Entwicklung gesünderer Lebensweisen hinaus auf die Förderung von umfassendem Wohlbefinden hin.“

Die Rede ist von

– umfassenden körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefinden
– von der Befriedigung individueller wie kollektiver Bedürfnisse
– der Wahrnehmung und Verwirklichung von individuellen und kollektiven Wünschen und Hoffnungen
– vom Meistern der Umwelt – auch im Sinne von Veränderbarkeit
– von Gesundheit als einem positiven Konzept in der Einheit von individuellen und sozialen Ressourcen
– und von Gesundheit als einer gesamtgesellschaftlichen Aufgabe mit dem Ziel des umfassenden Wohlbefindens.

In der deutschen Gesundheitspolitik und ihren Debatten fühle ich mich oft, als gäbe es diese Erkenntnisse nicht. Genau der Zusammenhang zwischen Individuellem und Kollektivem beschreibt Solidarität, erfordert sie und beschreibt ihre Grundlagen.  Gemeinhin wird Solidarität als ein Zusammengehörigkeitsgefühl beschrieben oder als Miteinander auf der Basis von Gegenseitigkeit. Ich möchte einen Schritt weiter gehen. Solidarität ist für mich zunächst  bedingungslos und uneigennützig. Sie erweist sich – wie alles – in der Praxis und nicht in Worten. Solidarität ist mehr als Mitgefühl. Solidarität bedingt Freiheit und kann nicht erzwungen werden.  Solidarisch ist man oder frau nicht, solidarisch handelt man oder frau.

Nun wird nicht nur mir entgegengehalten, dass Solidarität ihre Grenzen habe. Ein junger Mann, der sich heute, mit dem Wissen der letzten 30 Jahre, mit HIV infiziere, der sei doch selbst schuld, der verdiene keine Solidarität, noch weniger, wenn er sich vor dem Gang in die Sauna, den Darkroom – wohin auch immer – mit Drogen beneble. Er müsse das Risiko doch kennen.

Dahinter steckt auch ein Hauch Diktatur

Die Raucherin, die trotz der erschreckenden Mitteilung „Rauchen lässt ihre Haut altern“ zur Zigarette greift. Der Autofahrer, die Bergsteigerin, der Extremsportler, die Alkoholikerin, die Aufzählung ließe sich, je nach Perspektive unendlich fortsetzen….  nicht enthalten sind allerdings die workaholics, meist gut bezahlt, die sich zum frühen Herzinfarkt arbeiten.

Was steckt da eigentlich dahinter? Neben – wie auch immer motivierten – Schulddiskursen ist es auch der Drang zur Normierung, auch ein Hauch Diktatur, aber vor allem die Idee, individuelles Wissen führe zu Verhaltensänderung und diese Verhaltensänderung zu mehr Gesundheit. Am Rande: Dass dem leider nicht so ist, erleben HIV-Positive jeden Tag. Zahnärztinnen und Zahnärzte, die HIV-positiven die Behandlung verweigern, Radiologinnen und Radiologen, die für eine Röntgenaufnahme eines Positiven Gummihandschuhe anziehen. Beispiele dafür, dass Wissen, dass ich bei Ärztinnen und Ärzten voraussetze, eben nicht zu einer Verhaltensänderung führt.

Der Grundfehler aus meiner Sicht liegt hier in der Betonung der individuellen Verhaltensänderung als Grundlage von Gesundheit. Erinnern wir uns noch mal an die Ottawa-Charta, den Zusammenhang von Individuellem und Kollektiven.

Die Rote Schleife

Das Zeichen für Solidarität in der Paulskirche. Foto: AIDS-Hilfe Frankfurt

Die Aidshilfen in Deutschland haben schon Anfang der 90er Jahre ein Arbeitskonzept entwickelt, das die strukturelle Prävention postuliert, den Zusammenhang von Verhaltens- und Verhältnisprävention, das Miteinander von Primärprävention, also der Verhinderung von HIV-Infektionen, die Sekundärprävention, Maßnahmen zur Verhinderung des Ausbruchs von Aids und der Tertiärprävention, Maßnahmen, um den Menschen so lange wie möglich ein gutes Leben mit dem Vollbild Aids zu ermöglichen, ein Konzept das Freiheit, Selbstbestimmung und Solidarität verbindet und fördert.

Bernd Aretz hat dazu rückblickend formuliert:  “Gesundheit war nicht von Virenfreiheit abhängig, sondern davon, dass in der konkreten Lebenssituation ein Höchstmaß an Autonomie und Würde erhalten blieb. Dies setzte einen geänderten gesellschaftlichen Umgang und eine Förderung der individuellen Möglichkeiten voraus. Die Strukturen mussten geändert werden. Das ging von der Abschaffung des §175 zur Legalisierung der Substitution und möglichst auch des Drogengebrauchs zur rechtlichen Absicherung der Sexarbeiter/innen bis zu einem grundlegend anderen Umgang mit Migranten.”

Solidarität fällt nicht vom Himmel

Und in dieser Beschreibung steckt die nächste Dimension von Solidarität, einer Solidarität, die in Aidshilfen und in der Selbsthilfe der Menschen mit HIV/Aids gewachsen ist und die wir die Solidarität der Uneinsichtigen nannten. Eine Solidarität, die uns gegenseitig stärkte und die uns half, unsere Umwelt zu meistern und zu verändern.

Die Abschaffung des §175 war hier schon erwähnt, die Legalisierung von Substitution, das  Prostitutionsgesetz – all diese Veränderungen konnten gemeinsam erreicht werden.

Aber auch diese Solidarität muss immer neu errungen werden, fällt nicht vom Himmel. Wenn ich heute bei facebook lese, dass ein Freund von mir aus München ebendort im schwulen Distrikt von einem jungen Schwulen ob seines sichtbaren Alters angepöbelt wird, dann zeigt das, da liegt noch ne Menge Arbeit auf der Straße.

Es zeigt mir – nebenbei bemerkt – auch, dass die schwulen Communities endlich realisieren sollten, dass neben der rechtlichen Gleichstellung, die wir bis auf die Öffnung der Ehe weitgehend erreicht haben, weitere Debatten geführt werden müssen, in denen es um eine Vielfalt von Vor-Bildern auch in den schwulen Communities geht, eine Vielfalt, die den Normierungen in schwulen Szenen etwas entgegensetzt und der neuen Generation ein unbeschwerteres Leben ermöglicht.

Natürlich brauchen wir auch eine Debatte – und die haben wir – über Homophobie in der Gesellschaft, ihre Ursachen und wirksame Strategien zur Förderung sexueller Vielfalt. Beispielgebend sind hier die Bundesländer Berlin und Nordrhein-Westfalen, die Landesprogramme aufgelegt haben bzw. auflegen, übrigens unter breiter Beteiligung der Communities.

Dass es der Aids-Bewegung bis heute nicht gelungen ist, im Gegenteil zu Spanien, die Spritzenvergabe in deutschen Knästen (mit einer Ausnahme, dem Frauenknast in Berlin-Lichtenberg) durchzusetzen, schmerzt mich. Martin Dannecker nannte das auf der Präventionskonferenz der Deutschen AIDS-Hilfe einen Grund sich zu empören. Dem ist nichts hinzuzufügen.

Denn auch hier gilt die Achtung von Autonomie und nicht der Drang, Ideologie – der Knast wäre drogenfrei – in den Himmel zu heben. deshalb wird es für die DAH in den nächsten Jahren ein wichtiger Schwerpunkt sein, hier deutliche Fortschritte zu erreichen.

Der Moment der Konfrontation mit Menschen mit HIV wird vernachlässigt

Und – bevor die berechtigten Einwände kommen – ja, HIV/Aids hat sich verändert. Es ist zu einer chronischen Erkrankung geworden. Viele Menschen haben die Panik vor dem schnellen Tod verloren. Ich finde das nicht schlimm. Schlimm finde ich vielmehr, dass im öffentlichen Diskurs nach wie vor auf alleinige  Wissensvermittlung gesetzt wird und das andere – für mich so wichtige – Moment der Konfrontation mit Menschen mit HIV vernachlässigt wird. Ich bin froh, dass es der DAH  gelungen ist, in Zusammenarbeit mit der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, dem Bundesministerium für Gesundheit und der Deutschen AIDS-Stiftung, seit dem vergangenen Jahr eine Kampagne zum Welt-Aids-Tag zu machen, die reale Menschen mit HIV in den Mittelpunkt stellt, Konfrontation und Solidarität ermöglicht. Leider läuft diese Kampagne eben nur zum Welt-Aids-Tag und nicht das ganze Jahr über.

Denn die Angst vor Diskrimierung und Ausgrenzung ist geblieben, und sie ist real. Wenn vor wenigen Wochen in Berlin einem jungen Mann gekündigt wurde, weil er HIV-positiv ist, wohlgemerkt, es geht nicht um einen Chirurgen, der unter Umständen, wie es ein befreundeter Chirurg ausdrückte, bis zum Ellenbogen in eines Patienten Körper steckte, nein, der junge Mann war für die Qualitätskontrolle in einem Pharma-Unternehmen zuständig. Die Begründung des Gerichts, das die Kündigung für rechtmäßig hielt, hat übrigens nicht den konkreten Arbeitsablauf und daraus erwachsende Gefahren – die es nicht gibt – benannt, sondern darauf rekurriert, dass HIV als chronische Erkrankung nicht vom Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz abgedeckt sei. Nun denn, meine Damen und Herren aus den Parteien – ich nehme das auch selbst als Mitglied einer Partei mit-, dann müssen wohl chronische Erkrankungen in diesen Katalog aufgenommen werden.

Und gegen diese Diskrimierung und Ausgrenzung müssen wir aufstehen, wann immer sie uns begegnet. Sei es in dieser Form oder in Form von Homophobie, der Kriminalisierung des Drogengebrauchs, Sexismus oder Rassismus. Und das geht eben nicht nur an den entsprechenden Tagen, wie dem 1. Dezember, dem 8.März (Welt-Frauentag – wer es nicht weiß), dem 17. Mai (dem internationalen Tag gegen Homophobie), im Juli zum Gedenktag für die Opfer des illegalisierten Drogengebrauchs, sondern das ganze Jahr über in der Straßenbahn, im Bus, in der Schule, am Arbeitsplatz, in der Kneipe und im Verein.

„Gegen Elend und Seuche kann nur der Umsturz helfen“

Denn genau diese Solidarität kann – wir erinnern uns an Ottawa – dazu beitragen, körperliches, seelisches und soziales Wohlbefinden zu steigern. Und gemeinsam müssen wir den gesellschaftlichen Diskursen entgegentreten, die uns gegeneinander ausspielen wollen, die Solidarität verhindern. Die finanzielle Zukunft der deutschen Sozialversicherungssysteme wird eben nicht durch Leistungskürzungen wiederhergestellt, sondern durch Umstellung der Mechanik der Beitragsrechnung. Die wurde im Zeitalter der industriellen Massenproduktion erfunden,  auf dem damals der gesellschaftliche Reichtum basierte. Der Reichtum ist noch da, er wächst sogar stärker als je zuvor, allerdings erarbeiten ihn immer weniger Menschen. Also sollte die Finanzierungsgrundlage verbreitert werden, dann sind die solidarisch finanzierten Sozialversicherung für alle auch weiter zu finanzieren. Das klingt nach Umsturz?

Übrigens: Auch diese Erkenntnis ist nicht ganz neu. Rudolf Virchow, der berühmte Berliner Arzt, der auch ein 1848-er Revolutionär war, formulierte:  „Gegen Elend und Seuche kann nur der Umsturz helfen, der zu Freiheit und Wohlstand führt.“

Herzlichen Dank!

 

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