Was bleibt von einem Menschen? An Melitta Sundström, Deutschlands bekannteste Soultunte, erinnert ein Café in Berlin, das ihren Namen trägt, und ein bestimmter Geist, der noch heute sehr lebendig ist. Ein Besuch bei ihrer Weggefährtin Tima die Göttliche. Von Paul Schulz
„Man lebt zweimal“, schrieb Honoré de Balzac: „Das erste Mal in der Wirklichkeit, das zweite Mal in der Erinnerung.“ Wie also erinnern wir uns an die an Aids verstorbenen Menschen? Was bleibt von ihnen, wie bleiben sie in unserem Gedächtnis? Mit diesen und anderen Fragen zum Gedenken beschäftigt sich unser Blog-Themenschwerpunkt auch in diesem Monat.
Tima die Göttliche lächelt und steckt sich in ihrer kleinen Küche in Berlin-Wedding noch fix eine Selbstgedrehte an, bevor sie antwortet. „Es ist schon lustig, dass du gerade jetzt damit kommst. Weil, ich habe erst letzte Woche von ihr geträumt.“ Und, war schön? „Ja, war schön.“ „Sie“, von der da geträumt wurde, ist Melitta Sundström, die berühmteste „Soultunte“ der Welt, „Urberlinerin aus Bad Kreuznach“, ebendort am 31. Oktober 1964 als Thomas Gerards geboren und am 8. September 1993 in Berlin an den Folgen von Aids gestorben.
„Sie ist nicht weg, nicht für mich, nein. Aber das, was sie wollte, das, wofür sie stand, das ist ein bisschen weg.“ Und das war? „Stil, ihr Gesang, ihre Musik, dass ein Mann in einem Kleid auf einer Bühne oder sonstwo eben nicht bloß eine Veranstaltung ist, sondern eine politische Veranstaltung.“
Das hat Melitta angetrieben? Tima lacht. „Angetrieben haben sie erst mal die anderen. Man muss wissen, Melitta war gerne faul. Die hatte für einen liebevollen Tritt in den Arsch immer Verwendung.“ Hinter einer großen Tunte stehen viele andere. So ist das.
Die Verschränkung von Kunst, Unterhaltung, Politik und Sex war einmalig
Die anderen, das waren zum Beispiel Melitta Poppe, Chou Chou de Briquette und BeV Stroganoff. Zusammen mit Melitta Sundström bildeten sie „Ladies Neid“, auch so viele Jahre nach ihrer Auflösung immer noch das legendärste Tuntenensemble der Hauptstadt. Im wilden West-Berlin der 80er Jahre waren sie meilenweit von dem entfernt, was man sich unter „Damenimitation“ bis dahin so vorstellte. „Es gab diese Regel, dass keine von uns auf die Bühne durfte, bevor sie nicht wenigstens eine Laufmasche in der Strumpfhose hatte. Es ging ja nicht darum, ‚schön‘ zu sein, sondern um Inhalte.“ Und die waren politisch, hochpolitisch. „Trümmertunten gab es so vorher nicht. Und die Verschränkung von so was wie Kunst, Unterhaltung, Politik und Sex war schon entscheidend für das, was wir gemacht haben. Ist es für unsere Generation noch, denke ich.“
Und es wurde live gesungen, was Tima jetzt manchmal fehlt. „Wenn ich heute die neue Generation sehe, die wieder zu amerikanischen Popsongs billiges Playback-Gehampel macht, denke ich öfter an Melitta und was sie dazu wohl gesagt hätte.“ Und das wäre? „Nüscht. Sie war keine, die gemeckert hat. Es ging auch ums Vorleben, darum, es für sich richtig zu machen, nicht darum, über andere herzuziehen. Sie hätte sich das angeguckt und wäre gegangen. Oder hätte sich die Mädels nach der Vorstellung gegriffen und gesagt: ‚Wir sollten uns mal unterhalten‘.“
Sundström wäre, lebte sie noch, heute wohl eine der berühmtesten Tunten Deutschlands. Eines ihrer letzten großen Projekte war ihr phänomenaler Gospelchor, den sie auf die Beine gestellt hatte. Nur wenige Tage vor ihrem Tod konnte Melitta noch im Café Anderes Ufer ihre erste eigene CD vorstellen – unter Sammlern ist das Album längst ein begehrtes Objekt.
„Melitta wäre heute berühmt, da bin ich sicher“
„Melitta wäre heute berühmt, da bin ich relativ sicher. Weil sie mit ihrer Musik weitergemacht hätte. Und zwar nicht rückwärtsgewandt, sondern immer mit den Augen nach vorn. Ich bin ja selber eher an Traditionen und der Vergangenheit interessiert, das war bei Melitta nie so. Die wollte immer aktuell sein und war gedanklich immer mehr im Hier und Jetzt und der Zukunft unterwegs, auch und gerade in ihrer Arbeit. Vielleicht hätte sie in den 90ern Soul und Techno gekreuzt, wer weiß.“
Dass Melitta Sundström in ihrer Arbeit, in ihren Shows und Songs, auch HIV zum Thema machte, war da nur schlüssig. „Sie hat sich immer mit dem beschäftigt, was gerade war, auch mit ihr selbst, und da ging’s dann auch um das Virus. Die Zeit war ja auch eine ganz andere. Es gab noch keine Kombitherapie.“
Tima ist nicht die Einzige, die öfter an Melitta denkt. Jeder Besucher des Berliner Cafés Melitta Sundström muss seit vielen Jahren unter ihrem Namen durch. Was ihr nicht gefallen hätte. „Kommerzialisierung war nicht ihre Sache. Das wäre zu ihren Lebzeiten nur gegangen, wenn sie da umsonst hätte trinken können. Und dann hätte sie da jede Woche drei Partys geschmissen und der Laden wäre ganz schnell pleite gewesen“, vermutet die alte Freundin lachend.
Der Berliner Orden der Schwestern der Perpetuellen Indulgenz trägt Melitta zu Ehren den Hausnamen „Erzmutterhaus Sankta Melitta Iuvenis“ (Melitta die Jüngere im Vergleich zu Melitta Poppe). „Diese Art von Gedenken passt dann wieder zu ihr, schließlich hat sie sich jahrelang selbst dort engagiert.“
Wenn Tima aus dem Haus geht, glaubt sie manchmal, Melitta zu sehen. „Das passiert so einmal die Woche, dass ich irgendwo oder an irgendjemandem etwas sehe und denke, ich sehe sie. Gesten, oder eine Stimme. Wir waren ja auch ständig im Fummel unterwegs, auch wenn wir nicht aufgetreten sind. Deswegen sehe ich jetzt manchmal Frauen Ende 40, die groß und dünn sind, und überlege mir, ob sie wohl so aussehen würde.“
„Ihre Leiche hat uns die Familie ja bei Nacht und Nebel weggeschafft”
Einen Ort, an den Tima gehen könnte, um sich an Melitta zu erinnern, gibt es nicht. Zwar hat Ichgola Androgyn, eine andere Tuntenlegende, auf dem Berliner St. Matthäus-Kirchhof ein kleines Café eröffnet, aber Melitta ist nicht in Berlin beerdigt. „Ihre Leiche hat uns die Familie ja bei Nacht und Nebel weggeschafft und in Meisenheim, im Westen der Republik, verscharrt. Das würde heute auch nicht mehr passieren. Jetzt würden wir klagen. Damals ging das nicht.“ Aber Melitta ist nach wie vor an der Spree. „Wenn sie irgendwo spukt, dann hier. Wo sollte sie sonst sein? Ich kann mir eigentlich nichts anderes vorstellen. Aber ich kann sie ja mal fragen, wenn ich das nächste Mal von ihr träume.“
Hörbeispiel aus Melitta Sundströms musikalischem Werk: “Kassel”
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„Der Tod ist das zweite große Fest im Leben“ – Interview mit Matthias Hinz
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