Offener Brief eines Krankenpflegers zum Jahr der Pflege – Bitteschön:
Sehr geehrte Damen und Herren Volksvertreter,
es trägt sich in jüngerer Vergangenheit zu, dass die Aufgaben des Gesundheitsministers, der wohl einer der Hauptansprechpartner zu diesem Thema ist, häufiger wechselt als dem Bürger lieb sein kann. Heute wende ich mich deshalb mit diesem offenen Brief an Sie.
Im deutschen Gesundheitswesen krankt es sehr. Es herrschen dringend verbesserungsbedürftige Zustände. Als Politiker eines anderen Ressorts werden Sie nun vielleicht denken: “Ha! Das geht mich doch gar nichts an.” Doch! Schließlich tragen Sie zumindest ebenso viel Verantwortung für das Gelingen von Gesellschaft wie der durchschnittliche Bürger. Den fordern Sie immer wieder dazu auf Verantwortung für sich, die Umwelt und seine Mitmenschen zu übernehmen und einen Beitrag zu leisten, damit Deutschland als Ganzes funktionieren kann. Sicherlich werden Sie darum, in Anbetracht Ihrer besonderen gesellschaftlichen und politischen Position und Verantwortung, als privilegierte Diener des Volkes, gerne beitragen.
Das Jahr der Pflege (2011) haben Sie nun wohl “erfolgreich” hinter sich gebracht. Es ist zumindest vorüber. Darum jetzt, Anfang 2012, eine kleine Rückmeldung.
Nach wiederholten, vollmundigen Ankündigungen zum Jahr der Pflege haben Sie leider eine gesellschaftliche Gruppe sträflich im Stich gelassen: die Betroffenen – die Pflegenden und die Pflegebedürftigen. Sollte Sie diese Erkenntnis wider Erwartens noch gar nicht getroffen haben, dann sprechen Sie doch einfach einmal direkt mit einigen von “denen”. Sie finden bestimmt welche. Unter uns, es sind Millionen von “denen” da draußen.
Leider sind schon seit einigen Jahren Ihre Versprechen und leeren Phrasen immer weniger mit der Realität in Einklang zu bringen. Tatsächliche Verbesserungen sind in der Gesamtschau nicht auszumachen. Im Gegenteil, die Situation verschlechtert sich für die Betroffenen jährlich.
Betrachten wir einmal einen Ausschnitt etwas genauer:
Zeit ist, für eine als gut empfundene Pflege, eines der wichtigsten Kriterien. Dies gilt für Pflegende wie Pflegebedürftige. Der von Ihnen, liebe Volksvertreter, systemisch erzeugte Sparzwang so wie die überbordende und weiter zunehmende Bürokratie sind leider genau hier wirksam. Zeit wird immer knapper. Womöglich bereits zu knapp.
Eine gute Pflege ist für die anspruchsberechtigten Bürgerinnen und Bürger so nicht sicherzustellen. Ich bange inzwischen sogar um eine angemessene oder notwendige Pflege ohne Folgeschäden für Leib und Leben.
Ein Beispiel:
Hygienefehler führen vermehrt zu resistenten Keimen. Teure Antibiosetherapien werden notwendig. Aufgrund der Resistenzen bleibt der Erfolg dennoch oft aus. Todesfälle mehren sich.
Allein der Mangel in der Hygiene kostet nach Expertenschätzungen jedes Jahr 30.000 bis 40.000 Menschen in Deutschland das Leben. Ein hoher Preis, individuell und gesellschaftlich, menschlich und ökonomisch.
In Anbetracht der scheinbaren Ohnmacht, mit der Sie – Regierung und Opposition wechselnder Couleur – das System nicht reformieren können oder wollen, stellt sich die Frage, ob Sie sehenden Auges auf den Zusammenbruch unseres Gesundheitssystems zusteuern. Natürlich waren Sie in der Vergangenheit stets bemüht die politische Verantwortung zu tragen, andere Teile der Verantwortung haben Sie allerdings abgegeben. So wurden Verbände von Kostenträgern und Dienstleistern für die Umsetzung verantwortlich. Die Ergebnisse sind und waren vorhersehbar.
Bei all Ihrer Expertise wissen Sie bestimmt: Organisationen arbeiten mit den ihnen zur Verfügung stehenden Instrumenten unter Berücksichtigung ihrer Ziele. Bei Krankenkassen sind dies primär Verwaltungsinstrumente mit dem Ziel der Kontrolle. Bei Gesundheitsdienstleistern sind das, für Wirtschaftsunternehmen nicht überraschend, Steuerung der Kosten und Leistungen mit dem Ziel der Gewinnmaximierung.
Das Ergebnis sind ausufernde Bürokratieexzesse gepaart mit stetig steigendem Kosten- und Leistungsdruck und der Privatisierung der Erträge.
Die dynamischen Entwicklungen der letzten Wahlen sollten als politisches Warnsignal verstanden werden. Wenn die Politik keine Antworten hat sondern Zick Zack spricht, scheinbar den Bezug zur Realität der Wähler verloren hat, Wahlkampfversprechen eher Versprecher sind und eine Ernsthaftigkeit der Bemühungen nicht erkennbar ist, sind bürgerliche Reaktionen selbstverständlich. Das Gesundheitswesen ist ein wichtiges Feld, das große Teile der Bevölkerung betrifft und beschäftigt.
Als Volksvertreter tragen Sie in herausgehobener Position Verantortung und haben Einfluss. Werden Sie hier endlich aktiv und beenden Sie das unsägliche Verschieben von Aufgaben und Problemen. Deutschland braucht angemessene jedoch zumindest ausreichende Lösungen.
Selbstverständlich kann man etwas zur Brandbekämpfung beitragen, in dem man auf ein brennendes Haus spuckt. Allerdings ist das, sowohl im Denken als auch im Tun, weder angemessen noch ausreichend.
Yassin Glaidos
Krankenpfleger