Domenica, eine der prominentesten Huren Hamburgs, gehörte einst zu den Mitbegründerinnen von Ragazza. Das Projekt, das sich um Grundbedürfnisse und die Versorgung von Drogen gebrauchenden Prostituierten in der Hansestadt kümmert, feiert nun seinen 20. Geburtstag. Axel Schock sprach mit Gudrun Greb. Die ausgebildete Krankenschwester und Betriebswirtin ist Geschäftsführerin der Beratungsstelle Ragazza im Stadtteil St. Georg.
Es gibt Projekte für Drogen Gebrauchende und Projekte für Straßenprostitution. Hat Ragazza mit dieser Spezialisierung auf Defizite reagiert?
Das hat etwas damit zu tun, dass der Hamburger Stadtteil St. Georg ein klassisches Prostitutionsgebiet ist, und zwar nicht erst seit 20, sondern bereits seit über 150 Jahren. Im Volksmund nannte man das früher den Hamburger Hausfrauenstrich. Zu diesen Frauen, die hier ihr kärgliches Einkommen mit Prostitution aufbesserten, kamen ab den 1970er Jahren Minderjährige und Drogengebraucherinnen. Ihre Einnahmequelle ist die Beschaffungsprostitution. Während man den Hamburger Hausfrauen noch mit einer gewissen Toleranz begegnete, reagierte man auf die Drogenprostitution mit Repressionen. Daher musste man diesen Frauen ein spezielles Angebot machen. Die Alternative wäre gewesen, weiterhin wegzuschauen.
Drogen gebrauchende Prostituierte stehen in der Hierarchie ganz unten
Die bereits bestehenden Projekte konnten diese Aufgabe nicht leisten?
Ein Problem war, dass diese Frauen sich dort nicht immer gut aufgehoben fühlten, weil sie in der Hierarchie, die es bei Drogenkonsumenten und Subsituierten gibt, ganz unten stehen. Eine Frau, die „nur“ dealt, steht auf einer höheren Stufe. Sexarbeiterinnen, die keine illegalisierten Drogen nehmen, glauben wiederum, sie seien etwas Besseres und würden professioneller arbeiten als Frauen, die anschaffen und ihr Geld für Drogen ausgeben.
Ein weiterer Grund war, dass Frauen andere Konsummuster und Konsumbedingungen haben als Männer und auch anders mit sich und ihrem Körper umgehen. Wir kamen daher zu dem Schluss, dass eine spezielle Überlebenshilfe für anschaffende Drogenkonsumentinnen gebraucht wird und wir Bedingungen schaffen müssen, in denen sie sich wohlfühlen und vor Übergriffen durch Männer – auch denen der Staatsmacht – geschützt sind.
Ragazza ging von 20 Jahren an den Start. Wie sah eure Arbeit damals aus?
Der Kern des Projekts war Sozialarbeit vor Ort. Das heißt, die Mitarbeiterinnen gingen durch die Straßen und boten den Frauen Arbeitsmaterialen wie Kondome und Gleitgel an, aber auch ein offenes Ohr und ein gutes Wort. Einmal in der Woche konnten wir sie zu einem Stammtisch in eine Kneipe am Hansaplatz in St. Georg einladen. Sie befindet sich in Bahnhofsnähe, wo sich die Frauen vorwiegend aufhalten. Später hatten wir dann eine eigene Anlaufstelle. Die Frauen mussten nun nicht mehr in der Kneipe herumsitzen, sondern konnten zu uns in einen geschützten Raum kommen.
Welche Nationalitäten haben eure Klientinnen?
Noch immer überwiegen deutsche Frauen. Aber es gibt natürlich Klientinnen aus allen möglichen Ländern, seit einigen Jahren verstärkt aus Osteuropa.
Das Ragazza hat – einmalig in Europa – einen Druckraum eigens für Frauen. War es eigentlich schwierig, ihn gegenüber den Behörden durchzusetzen?
Konsumräume waren in der Zeit kein großes Thema mehr, weil die Drogenpolitik in Hamburg bereits sehr liberal war und es schon andere Druckräume gab. Vielmehr fragten andere Drogeneinrichtungen, ob Frauen tatsächlich einen eigenen Druckraum benötigen. Das Verständnis dafür war damals bei den Kollegen noch nicht sehr groß.
Hatten sie vielleicht nur Angst um ihr Stück vom Kuchen?
Sicher. Man muss das aber gar nicht so böse oder zynisch sehen. Die Drogeneinrichtungen standen damals von allen Seiten unter Beschuss. Bereits damals wurden dezentrale, auf die Stadt verteilte Konsumräume gefordert. Daher stellte sich die Frage, ob man St. Georg durch einen weiteren Druckraum noch mehr belasten sollte oder die Frauen zum Druckraum des Drop Inn lotsen könnte. Inzwischen hat sich aber der Sach- und Fachverstand durchgesetzt: Die Notwendigkeit eines Druckraums nur für Frauen zweifelt heute niemand mehr an.
Die psychische Verelendung nimmt seit einigen Jahren zu
Wie steht es heute um den Gesundheitszustand eurer Klientinnen?
Der körperliche Zustand der Klientinnen in Hamburg hat sich merklich verbessert. Einerseits gibt es ein umfangreiches Angebot der medizinischen Grundversorgung. Andererseits ist der intravenöse Drogengebrauch zugunsten weniger riskanter Konsumformen zurückgegangen, und daher kommen auch Abszesse, Thrombosen und Embolien nicht mehr so häufig vor. Sicherlich hat auch die Ambulanz, in der Drogenabhängige mit synthetischem Heroin behandelt werden, zur gesundheitlichen Verbesserungen beigetragen.
Allerdings müssen wir seit einigen Jahren eine zunehmende psychische Verelendung der Klientel feststellen. Dafür gibt es leider kein adäquates Hilfsangebot. Gemeinsam mit Psychologen und Psychiatern der niedrigschwelligen Einrichtungen versuchen wir zwar, dem etwas entgegenzusetzen, aber wir kommen hier schnell an unsere Grenzen.
Es gibt immer noch einen großen Bedarf an Information und Aufklärung
Inwieweit sind sexuell übertragbare Infektionen (STIs) ein Thema in eurer Arbeit?
Was Hepatitis, HIV und andere STIs angeht, gibt es immer noch einen großen Bedarf an Information und Aufklärung. Wir merken das besonders bei den Themenwochen, die wir regelmäßig durchführen. Wir suchen uns ein Thema aus, beispielsweise Syphilis oder HIV, und sprechen einen Monat lang unsere Besucherinnen darauf an. Unter anderem motivieren wir sie mit einem kleinen Quiz, ihr Wissen zu überprüfen. Auf diese Weise kommen wir mit den Frauen ins Gespräch und regen sie auch an, sich testen zu lassen.
In welcher Form könnt ihr Tests anbieten?
Wir haben das Glück, dass wir während unserer Öffnungszeiten auf Honorarbasis eine Allgemeinmedizinerin beschäftigen können. Die Ärztin ist zugleich im CASA Blanca tätig, dem „Centrum für AIDS und sexuell übertragbare Krankheiten“ in Altona. Außerdem arbeiten wir noch mit einer Gynäkologin zusammen.
Viele Frauen haben keine Krankenversicherung
Die beiden Ärztinnen machen Abstriche, Blutentnahmen und andere Untersuchungen und stellen auch Blickdiagnosen. Wenn die Ergebnisse vorliegen, können die Klientinnen diese mit den Sozialarbeiterinnen, Psychologinnen oder Ärztinnen besprechen. Dann allerdings beginnt oft das Problem: Viele Frauen haben nämlich keine Krankenversicherung.
Eine Behandlung ist also nicht möglich, weil es keine Versichertenkarte gibt.
Wir selbst könnten auch gar nicht mit der Kasse abrechnen. Wir sind nur für die Grundversorgung da und können die Frauen danach nur weitervermitteln. Ohne Krankenversicherung ist das meist sehr schwierig.
Das heißt, ihr müsst die Frauen ins Ungewisse schicken…
Ja. Wir versuchen dann über Spenden und andere Kanäle, eine Behandlung zu ermöglichen. Das eine oder andere Mal gelingt das auch. Doch wir haben keine verlässlichen Wege und können leider nicht gewährleisten, dass diese Frauen tatsächlich die notwendige Behandlung bekommen.
Könnt ihr in solchen Fälle auf ein finanzielles Polster zurückgreifen?
Wir bekommen relativ häufig getragene Kleidung und andere Sachspenden, Geld aber in der Regel nicht. Die Bereitschaft, für unsere Klientel zu spenden, ist gleich null. Daher sind wir auch ganz glücklich, dass ein amerikanischer Kosmetikkonzern einen Fonds aufgelegt hat.
Die Bereitschaft, für Drogen gebrauchende Prostituierte zu spenden, ist gleich null
Du spricht vom MacAids-Fonds des Kosmetikherstellers Estée Lauder.
Ja. Dort wurde uns im vergangenen Juni ein Kleinbus bewilligt. Damit können wir nun ein Jahr lang auf der Straße HIV- und Aids-Beratung anbieten.
Wie sieht diese Beratungsarbeit konkret aus?
Wir fahren mit dem Mobil an die Standorte unserer Klientel, gehen durch die Straßen und laden die Frauen zu uns auf einen Kaffee ein. Hier können sie sich dann eine Pause gönnen, sich vielleicht ein bisschen aufwärmen und das eine oder andere besprechen. Wir besuchen mit dem Mobil aber auch Modellwohnungen, wo wir den dort tätigen Frauen das Gleiche direkt am Arbeitsplatz anbieten.
Woher wisst ihr, wo diese Modellwohnungen sind?
Wir werten die Adressen im Internet oder in den Anzeigen der Tageszeitungen aus und fahren dann zu den Wohnungen. Sie befinden sich meist in anonymen Wohnblocks und sind über die ganze Stadt verstreut.
Die Frauen können mit kaum jemandem offen über ihre Arbeit sprechen
Fühlen sich manche nicht bei ihrer Arbeit gestört und belästigt, wenn ihr plötzlich in der Tür steht?
Das ist ganz unterschiedlich. Zum Teil hat sich schon herumgesprochen, das wir mit unserem Mobil unterwegs sind. Wenn die Frauen Kundschaft haben, lassen sie uns gar nicht erst rein. Aber manchmal erwartet man uns schon. Wir werden auch weiterempfohlen und weitervermittelt. Leider ist es immer noch so, dass die Frauen mit kaum jemandem offen über ihren Job reden können. Sie können in der Regel nicht zum Arzt gehen und offen sagen, dass sie als Prostituierte arbeiten. Daher nutzen sie unsere Gesprächsangebote, weil sie hier ungehemmt Fragen stellen können.
Gibt es Dinge, die euch bei diesen Gesprächen immer noch überraschen?
Erstaunlich ist, wie wenig Erfahrung viele Frauen in punkto Sexualität tatsächlich haben und wie rudimentär ihr Wissen zum Beispiel über Schwangerschaft oder die Übertragungswege von HIV und anderen STIs ist. Wir haben auch festgestellt, dass ihr Wissen immer wieder aufgefrischt werden muss, weil es im Arbeitsalltag einfach verloren geht. Außerdem überrascht uns immer wieder, dass Frauen zwar den festen Vorsatz haben, sich zu schützen, sich dann aber doch dem Wunsch des Kunden nach ungeschütztem Sex beugen, wofür er in der Regel auch mehr bezahlt.
Ragazza e.V. feiert seinen 20. Geburtstag offiziell am 2. Februar mit einem Tag der offenen Tür.
Ragazza, Brennerstraße 19, 20099 Hamburg, Telefon 040-24 46 31. Internetseite: www.ragazza-hamburg.de